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Er hatte das Messer bei sich. Es musste heute geschehen. Die Sechste musste ihr Leben lassen. Er musste es tun. Die Hölle wartete.

Der Akt war ihm so fremd, wie er ihm vertraut war. Wie eine Raubkatze auf der Pirsch trieb er sich durch die Bars. Ein Fehler wie beim letzten Mal durfte sich unter keinen Umständen wiederholen. Zu viel von der wertvollen Zeit, von der es an diesem Ort nie genug zu geben schien, hatte er verloren. Er war sicher gewesen, seinen Blick für das richtige Opfer geschärft zu haben. Alleine. Schwach. Fünfmal hatte er richtiggelegen. Das sechste Mal war er auf Minou getroffen. Der Fehler.

Er sah auf die Uhr. Halb Vier. Es war Zeit. Kurz schwankte er in seiner Wahl. Brünett. Blond. Brünett. Zielstrebig schritt er auf sie zu. Lächelte. Es war der Charme, der mit seinem menschlichen Körper kam. Er hatte gut gewählt. Den Zweck der Verführung erfüllte er. Sie erwiderte sein Lächeln. Errötete bei den umgarnenden Worten. Nahm seine Hand. Folgte ihm aus der Bar.

Dunkelheit, doch nicht tief genug. Die Straßenlaternen würden sein Geheimnis nicht wahren können. Er brauchte das schwarze Nichts der Nacht, in den er die toten Körper zurückließ. Die Seele würde gegangen sein. Wohin auch immer es sie rief.

Sie lachte über seine Worte. Sie wusste nichts von dem Messer. Sie fühlte sich gut. Sie war wie Minou. Und doch konnte er sie nicht in ihr finden. Sie war anders. Sie war nur Nummer Sechs. Sie folgte ihm. Er hatte Minou gefolgt. Sie lauschte seinen Worten. Er hatte Minous gelauscht. Sie war fasziniert von ihm. Er war fasziniert von Minou.

Die Straße verlassen. Kurz zögerte sie. Trat dann hinter dem Fremden in die Gasse. Ins schwarze Nichts. In den Tod hinein. Kurz musterte Cadmiel das Mädchen. Die Frage, die er nicht zulassen durfte. Was aus ihrem Leben geworden wäre, würde er es nicht hier beenden. Er durfte die Frage nicht zulassen, als er seine Hand auf ihren Rücken legte. Er durfte die Frage nicht zulassen, als er nach dem Messer griff. Er durfte die Frage nicht zulassen, als er sie gegen die Hauswand drückte und ihren Aufschrei in seiner Hand erstickte. Er durfte die Frage nicht zulassen, als das Messer in ihrem Hals ihr das Leben nahm. Er durfte die Frage nicht zulassen, als er ihren leblosen Körper zurückließ. Ohne Spuren seines Seins. Denn es war auch hier nicht mehr als ein flüchtiges Nichts.

Cadmiel hatte getötet. Oft hatte er getötet. Doch war es nicht zu vergleichen mit dem Töten auf der Erde. Hier war er mehr als Licht und Seele. Hier besaß er einen Körper. Hier musste er das Leben aus einem Körper nehmen. Hier hatte er Blut an seinen Händen. Es war noch immer fremd.

Nur langsam ging er seinen Weg. Begleitet von dem schweren Gefühl in seiner Brust. Auch wenn er wusste, dass er an Kraft gewonnen hatte, fühlte er sich dennoch schwach. Das Blut an seinen Händen war getrocknet. Er mied die Lichter der Straßen. Sein Weg war länger. Er dachte an Minou und fühlte Schuld. Sie hätte die Sechste sein können. Es hätte ihr Blut sein können.

Der Trödelmarkt war leer, als Cadmiel eintraf. Tradiaboli hatte sich in das Hinterzelt zurückgekehrt. Er bemerkte Cadmiels Eintreffen nicht. In Gedanken versunken betrachtete er das merkwürdige Gebilde in der Ecke des Zeltes. Cadmiel räusperte sich. Tradiaboli fuhr herum.

Sofort war er auf den Beinen. „Und? Hat es diesmal geklappt?"

Stumm hielt Cadmiel seine Hände in das schwache Licht. Fast schwarz war das Blut geworden. Tradiaboli nickte zufrieden und deutete auf die große Kupferschale auf dem Tisch. Cadmiel trat heran und legte seine Hände in das warme Wasser. Tradiaboli stellte diese Schale bereit. Jede Nacht. Cadmiel wollte sich nicht vorstellen, was mit dem Blut getränkten Wasser geschah. Langsam löste sich das Blut von seinen Händen und färbte das Wasser. Cadmiel betrachtete es. Es gab nichts Hässliches an diesem Bild. Kein Ebenbild des grausamen Mordes. Es war schön.

Wenn Engel fallenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt