Cadmiel wartete, bis Minou um eine Ecke verschwunden war. Einmal tief durchatmen, die Gedanken beiseiteschieben, dann ging er zum Stand hinüber. Er wusste nicht, was ihn jetzt erwartete. Der Trödelhändler blickte erst auf, als Cadmiel direkt vor ihm stand, obwohl er ihn schon lange vorher bemerkt hatte. Er hatte ihn mit dem Mädchen gesehen und es hatte ihn wütend gemacht.
Lange blickte er den gefallenen Engel an. Dann wandte er sich ab und verschwand im Hinterzelt mit der Gewissheit, dass der junge Mann ihm folgen würde. Hier waren sie kaum mehr als Umrisse, im schwachen Licht einer Öllampe. Anfangs hatte es Cadmiel wenig gestört, hier seine Arbeit verrichten zu müssen, doch fragte er sich nun, was es mit einem Menschen machte, sein ganzes Leben nicht mehr als ein Umriss in der Dunkelheit zu sein. Die Antwort fand er in dem alten Mann, der sich nun zu ihm umdrehte und mit den leblosen Augen anblickte. Abwartend. Seine Seele, sie war so widerlich, so dunkel, so nichtig. Jegliche Gefühle der Schuld ihm gegenüber waren verloren.
Die Muskeln seines Kiefers zuckten. „Das gestern Nacht hätte nicht geschehen dürfen. Es tut mir leid", presste er hervor.
„Was dir leidtun sollte, ist das, was nicht passiert ist", zischte der Händler. „Was war da los?"
„Ich verstehe nicht", sagte Cadmiel, obwohl er genau verstand.
„Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Junge", er deutete mit seinem knochigen Finger in die Ecke, in der die Maschine stand. Ruhig und friedlich, bewegungslos. „Ich habe es gesehen. Die Verbindung war da. Er war da. Er war in dir!"
Cadmiel schwieg. Er wusste, dass Tradiabolis Worte wahr waren. Er wusste, dass er eine Chance vertan hatte. Aber etwas war nicht richtig gewesen. Etwas, das ihn abgehalten hatte.
„Sprich!" Tradiaboli hatte seine Geduld verloren. Er wartete zu lange.
Cadmiel spürte die Wut in ihm hervorkrabbeln. „Das ist ganz allein meine Sache", fauchte er. „Du bist bloß ein Mensch." Er spuckte die Worte mit Verachtung aus. Er war es leid, so behandelt zu werden, als sei er einer von ihnen.
„Nein", das Lachen eines Wahnsinnigen. „Es ist schon lange nicht mehr nur deine Sache." Bedrohlich schritt er auf Cadmiel zu. „Ich habe so lange gewartet. Ich habe ihm so lange gedient. Ich habe genauso viel Recht wie du, endlich in die Hölle zu kommen und meine Arbeit an seiner Seite fortzusetzten. Ich habe mehr für ihn getan, als du es je tun wirst. Verdammter Engel." Er spuckte Cadmiel vor die Füße. Sein faltiges Gesicht war direkt vor ihm.
Die Verachtung ließ Cadmiels Lippen kräuseln. Es brodelte in ihm, doch er mahnte sich zur Ruhe. Sein schneller, heißer Atem war zwischen ihren Gesichtern gefangen und es widerte ihn an.
„Gott wollte dich nicht haben. Dein Vater nicht. Wieso sollte es der Teufel wollen?", seine Stimme war nun mehr ein dämonisches Zischen in Cadmiels Ohr. War es noch Tradiaboli oder war es der Teufel, der mit seiner Zunge sprach? Die bösen Worte, sie tanzten ihren schnellen Tanz in seinem Gehör. Immer wieder, immer schneller. Spielten ihr teuflisches Spiel.
Warum sollte er dich wollen? Was hast du für einen Wert? Wieso sollte er dich wollen? Wer sollte dich wollen?
Cadmiel schloss die Augen, kämpfte gegen die Wut, die lichterloh in ihm brannte. Dann traf ein Schlag sein Gesicht. Heftig brannte der Schmerz in seiner Wange, dort wo die Hand des alten Mannes auf sein Gesicht getroffen war.
„Lass es zu", ein weiterer Schlag. Tradiaboli packte und schleuderte ihn mit all der Kraft, die er noch aufbringen konnte, gegen den Tisch. Etwas krachte zu Boden. Cadmiel schmeckte Blut. Als er aufsah, stand der Mann über ihm, sah auf ihn hinab. Es war so falsch.
Und obwohl Cadmiel wusste, dass genau dies der boshafte Plan des Alten war, konnte er sich nicht länger beherrschen. Er hatte nicht länger Kontrolle über seine neu entfachten Kräfte. Die Werte des Guten, die man ihn so lange gelehrt hatte, bis sie in seiner Seele gefestigt waren, sie waren dahin. Es brach aus ihm heraus. Er war machtlos gegen die Gefühle, die ihn nun ergriffen. Gefühle, die sein ganzes Leben unterdrückt wurden.
Für das menschliche Auge kaum erkennbar, nur weiße Schlieren in der Luft, trafen sie Tradiaboli mit voller Wucht und schleuderten ihn gegen die Zeltwand. Kurz hielten sie ihn in der Luft, die Füße über dem Boden. Cadmiel erhob sich und fing den Blick des Mannes, durch die Schmerzen hindurch lächelnd. Überlegend. Er hatte gewonnen.
Mit dem gesenkten Kopf eines Verlierers wandte Cadmiel sich ab. Der Mann hinter ihm fiel zu Boden. Und Cadmiel ging.
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Wenn Engel fallen
FantasíaHimmel oder Hölle? Richtig oder Falsch? Vernunft oder Gefühl? Liebe oder Leben? - Wie würdest du entscheiden? ___ Seit Minou vor einem halben Jahr in die Stadt zog, um ihr Volontariat bei der örtlichen Tageszeitung anzutreten, läuft alles anders als...