Kapitel 18

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Lucy, Rahel (irgendwo im Wald, im Schloss)

Kein Wind geht, kein Tier ist zu hören und auch keine Sonne ist zu sehen. Lucy schreckt hoch. Sie sitzt nicht mehr an dem Baum, an dem sie eingeschlafen ist, plötzlich steht sie vor einem Abhang. Gerade noch rechtzeitig kann sie sich vor dem tödlichen Sturz retten. Wie konnte sie denn bloß hierher gelangen? Sie hat doch geschlafen, oder? Ist sie womöglich schlafgewandelt?
Es ist immer noch dunkel und sie kann nicht sagen, wo sie sich befindet. Lucy steht vor der Wahl, entweder schläft sie jetzt wieder ein, oder sie geht weiter. Sie entscheidet sich für die zweite Variante und macht sich auf den Weg. Allerdings hat sie vergessen, dass sie noch ihr Bauernkleid trägt, weshalb sie über die Röcke stolpert. Kurz entschlossen reißt sie die drei Rockschichten nacheinander ab, wodurch sie jetzt besser gehen kann und vorne keine nervigen Röcke hat. Die Stoffreste hebt sie vorsichtshalber auf und steckt sie in die eingenähte Tasche. Schließlich zieht sie auch noch ihre dünnen Stoffschuhe aus und wirft sie einfach weg. Mehrere Male rutscht sie auf dem feuchten Moos aus, aber dann hat sie den Dreh raus und fällt nicht mehr hin. Ihre Frisur, die schon fast zerstört ist, verhindert ihre Sicht. Deswegen öffnet sie ihre Haare ganz und lässt die Locken in sanften Wellen über den Rücken fallen.

Bis weit in die Dämmerung hat Rahel nach Lucy gesucht, hat sie aber nicht gefunden. Todmüde und sich schuldig fühlend ist sie schließlich zurück ins Schloss gefahren. Die Wachen brachten Rahel sofort zu einem besorgten Philipp und einer noch besorgteren Aurelia. Jetzt sind die drei im Speisesaal und schweigen sich an. Philipp geht aufgeregt auf und ab.
„Könntest du bitte aufhören?", bittet Aurelia ihn. Der König funkelt seine Frau wütend an.
„Unsere Tochter ist verschwunden, wir wissen nicht wo sie steckt und du regst dich über mich auf?", während er redet kommt sein französischer Akzent sehr stark zum Ausdruck. Normalerweise fällt dieser kaum auf, außer wenn er sich aufregt so wie jetzt.
„Wir müssen sie finden und zwar so schnell wie möglich.", sagt er jetzt.
„Philipp hat Recht. Ich mache mich wieder auf den Weg und suche sie.", mischt sich Rahel ein. Aurelia springt entsetzt auf. „Kommt auf gar keinen Fall in Frage. Du bleibst hier. Es ist kalt und dunkel draußen."
„Vielleicht, aber dennoch bin ich für Lucys Fehlen verantwortlich.", entgegnetet Rahel. In ihrer Stimme schwingt ein scharfer Unterton mit, der Aurelia deutlich macht, dass sie nicht widersprechen soll.
„Heute Abend können wir sowieso nichts mehr ausrichten. Ich denke wir sollten bis morgen warten", sagt Aurelia schweren Herzens. Philipp und Rahel starren sie entsetzt an.
„Du schlägst also vor, dass wir bis morgen warten sollten? Unsere Tochter ist da draußen!", sagt er entrüstet. Rahel nickt zustimmend.
„Haben wir denn eine Wahl? Außerdem wird es eh in ein paar Stunden wieder hell und wir können sie suchen gehen.", erwidert die Königin.
„Du hast Recht", sagt der König und sieht seine Frau liebevoll an. Rahels Blick gleitet zum Fenster hinaus.
„Und wenn ihr jetzt etwas passiert?", denkt sie laut. Aurelia und Philipp drehen sich sofort zu ihr um.
„Wie meinst du das?", fragt ihr Schwiegersohn. Rahel dreht sich zu ihm um.
„Woher wollen wir wissen, ob sie überhaupt hier in der Nähe ist? Vielleicht ist sie versehentlich in die nächste Stadt gelaufen."

Langsam geht die Sonne hinter den Bäumen auf. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln und blenden Lucy im Gesicht. Sie ist die gesamte Nacht durch Wald gelaufen und hat keinen blassen Schimmer wo sie jetzt ist. Sie weiß nur, dass sie müde, hungrig und einsam ist. Erschöpft lehnt sie sich an einem Baum. Ihr Kleid ist inzwischen noch schmutziger geworden. Sie muss wohl in der Dunkelheit in Matsch getreten sein, oder so. Vorsichtig berührt sie ihre Füße. Sie hat überall Blasen und Blut. Jetzt auch an ihren Händen. Achtlos streift sie ihre Hände am dreckigen Kleid ab. Dann steht sie auf und und geht weiter. Wobei sie vor Schmerzen das Gesicht verzieht. Alle fünf Meter bleibt sie stehen dreht sich orientierungslos im Kreis. Ihre Haube hat sie schon längst verloren. Nicht nur ihr Kleid sieht mitgenommen aus. Auch ihre Haare, Hände, Füße und Gesicht sind verschmutzt. Ihre Haare sind sogar teilweise verfilzt. Vermutlich muss sie mehrere Bäder hintereinander nehmen um den ganzen Dreck zu entfernen. Er hat sich auch unter den Fingernägeln festgesetzt. Entsetzt bleibt sie vor einer alten und morschen Brücke stehen. Sie sieht aus hätte sie schon mindestens hundert Jahre auf dem Buckel. Seufzend setzt sie einen Fuß darauf. Sie zuckt zusammen. Irgendetwas sticht bei jedem Schritt in ihren Fuß. Sie beeilt sich die Brücke zu überqueren und bricht vor Schmerzen auf der anderen Seite zusammen. Lucy nimmt behutsam ihren Fuß in die Hand und sucht den Verursacher des Schmerzes. Schnell findet sie ihn. Es ist ein Splitter. Sie nimmt einer der Stofffetzen aus der Tasche und nimmt ihn in den Mund. Dann beißt sie die Zähne zusammen und versucht den Splitter zu entfernen. Schon nach zwei Sekunden laufen ihr die Tränen übers Gesicht.

Wachen laufen wild durcheinander. Einige sitzen auf Pferden, andere stehen nur so herum und andere wiederum warten auf Befehle. Schließlich taucht der König, die Königin und deren Mutter auf. Philipp teilt die Wachen in kleine Gruppen ein um möglich viel von der Umgebung gleichzeitig absuchen zu können. Philipp, Aurelia und Rahel selber steigen in eine Kutsche und fahren in die Stadt, um dort nach der Prinzessin zu suchen. Doch kaum haben sie die Bewohner befragt, bemerken sie, dass keiner sie gesehen hat. Rahel, sie sich zusammen mit Aurelia im Hintergrund hält, hat ein schlechtes Gewissen. Ihr ist klar, dass sie daran schuld ist. Wenn sie Lucy nicht auf die Idee gebracht hätte einen normalen Tag zu verbringen, wäre sie jetzt nicht verschwunden.

Lucy sinkt am Ufer eines See auf die Knie und bespritzt sich mit Wasser. Sie formt die Hände zu Schalen und trinkt vorsichtig davon. Augenblicklich spuckt sie es wieder aus. Es schmeckt bitterlich und auch irgendwie schlecht. So als wäre das Verfallsdatum abgelaufen. Bei diesem Gedanken muss sie lächeln und für einen Augenblick verdrängt sie all ihre Sorgen und Gedanken. Weder ihre Müdigkeit noch ihre Ängste können für den Moment etwas anhaben. Lucy lässt den Blick übers Wasser schweifen und bleibt entsetzt sitzen. Dort, ihr gegenüber, ist die Quelle des Schmutzes. Mit schnellen Schritten eilt sie dorthin und sieht es sich genauer an. Es sind Abwasserrohre, die ins Wasser führen und somit das Wasser verschmutzen.

Das Wort „normal" hinterlässt auf Rahels Zunge einen bitterlichen Nachgeschmack. Sie macht sich schreckliche Sorgen um Lucy, allerdings versucht sie es nicht zeigen. Jedoch scheint Aurelia es zu bemerken, denn sie wirft ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, den Rahel jedoch ignoriert. Philipp kommt zu den beiden gelaufen.
„Und?", fragt Rahel sofort, ehe er zu Wort kommen kann. Jedoch schüttelt er schon wieder Kopf. Wie jedes Mal wenn er wieder kommt. Enttäuscht lässt sich Rahel wieder auf ihren Stuhl fallen. Auch Philipp setzt sich hin. Aurelia sieht sich die Gegend an. Plötzlich hellen sich ihre Augen auf.
„Kannst du uns zeigen wo ihr euch aus den Augen verloren habt?", fragt sie ihre Mutter.

Mit vorsichtigen Schritten verfolgt Lucy die Rohre. Sie führen sie zu einer verlassenen Hütte. Ohne zu zögern greift sie nach dem Knauf und öffnet die quietschende Tür. Es ist so dunkel, dass sie kaum ihre eigne Hand sehen kann, obwohl es mitten am Tag ist. Allerdings dringt ein bisschen Tageslicht durch die angelehnte Tür. Wodurch Lucy die ganzen Spinnweben und den Staub sehen kann. Die Hütte besteht aus einem Raum. Links von ihr, unter einem verdrecktem und teilweise zerstörtem Fenster, eine Feuerstelle und ein Kessel. In der Mitte steht ein großer vor sich hin schimmelnder Tisch mit abertausend Papieren darauf. Gegenüberliegend von der kleinen Kochstelle sind Regalbretter angebracht und vereinzelte Bücher stehen dort drin. Angewidert sieht sie sich weiter um. Plötzlich fällt die Tür hinter ihr zu. Erschrocken dreht sie sich um und erschreckt ein weiteres Mal. Denn vor ihr steht ein Mann mit einem Messer bewaffnet. Er lächelt sie mit einem zahnlosem Lächeln an. Seine Haare hängen ihm fettig in der Stirn. Seine Kleidung ist ungewaschen und auch seine restliche Erscheinung ist nicht ansprechend. Lucy sieht sich suchend um, jedoch findet sie keinen Fluchtweg. Dummerweise hat sie ihrem unheimlichen Gegner den Rücken zu gewandt, denn dieser zögert keinen Moment und nutzt die Gelegenheit. Ein Moment später spürt sie einen dumpfen Aufprall als sie gegen den Tisch knallt. Dann kommt die Dunkelheit und reißt sie mit sich.

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