Durch meine Adern raste immer noch das Adrenalin, hinterließ ein stolperndes Herz und zitternde Hände, während es immer später wurde.
Um neun Uhr kam Elif lächelnd zu uns nach hinten und gab uns das Zeichen, dass wir langsam zum Schluss kommen sollten. Also half ich Flynn dabei alle Sachen an die richtigen Orte zu stellen, bevor wir das Licht ausmachten und in den vorderen Teil des Restaurants traten. Ein Pärchen saß noch hinten in der Ecke und unterhielt sich lachend miteinander. Mit einem unbehaglichen Lächeln verabschiedete ich mich von Elif und Flynn, bevor ich durch den Hinterausgang wieder nach draußen ging.
Der Duft der Nachtluft stach mir in die Nase, während meine Augen Ryan fanden. Er lehnte neben der Tür des Restaurants und hatte die Augen geschlossen. Für einen kurzen Augenblick beobachtete ich ihn, musterte seine angespannten und wachsamen Gesichtszüge, bis sein Kopf in meine Richtung schoss. Ich errötete leicht und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
„Hey." Meine Stimme war leise, während ich mich nicht von der Stelle rührte.
Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schief, als er sich zu mir drehte. „Du hast gesungen?", fragte er und fixierte mich dabei so eindringlich, dass mein Gesicht plötzlich wieder viel zu gut durchblutet war.
„Woher-?" Meine Worte kamen nicht weit, da Ryan plötzlich vortrat und sich seine Hände sanft um mein Gesicht legten. „Was haben sie gesagt?", flüsterte er so dicht vor meinem Gesicht, dass ich ein paar Sekunden brauchte, um seine Frage zu verstehen. „Sie haben ja gesagt", antwortete ich prosaisch. „Mehr oder weniger." Ich lächelte vorsichtig, weil ich mir nicht sicher war, ob meine Antwort, die war, die er sich erhofft hatte. Vielleicht hatte er sich gewünscht, ich würde mir eingestehen, dass es zu gefährlich war. Vielleicht hatte er gehofft, ich würde erst gar nicht vorsingen. Oder einfach versagen. Ich wollte mir gar nicht so viele Gedanken darüber machen.
Seine Augen leuchteten, bohrten sich in meine, während seine warmen Hände immer noch an meinen Wangen lagen. Sein Blick glitt für einen winzigen Moment tiefer und meine Knie wurden weich. Ein leises Lachen entwich seinen Lippen. „Natürlich", wisperte er an mein Ohr. „Natürlich haben sie das."
Ich ließ meinen Kopf an seine Brust sinken, während sich seine Arme um mich legten. Zum ersten Mal an diesem Tag beruhigte sich mein Puls ein wenig, ließ mich zu Atem kommen und meine Augen schließen.
***
Malek war nicht da, als wir bei Tarek und Aadil ankamen, weshalb mein Herz wieder wild anfing gegen meinen Brustkorb zu hüpfen.
„Wo ist Malek?", fragte ich und sah mich dabei suchend um.
„Dir auch einen wunderschönen guten Abend", gab Tarek als Antwort zurück. Mein Blick begegnete seinem. Sein Gesicht sah müde aus, aber bei Weitem nicht mehr so wie noch vor einer Woche.
„Tut mir leid." Meine Mundwinkel zuckten kurz, als ich auf ihn hinabsah.
„Der Vollidiot meinte, er wolle noch mit ein paar Freunden abhängen." Bei Tareks Worten stolperte mein Herz überrascht und ich blinzelte perplex. Malek hatte noch nie Freunde. Er hatte immer gesagt, er wäre als Einzelgänger geboren und würde glücklich als einer sterben. Ich ließ mich auf meine Matratze fallen. Die Vorstellung, dass er hier zum ersten Mal Freunde gefunden hatte, machte mich gleichzeitig glücklich und kam mir dabei unglaublich falsch vor. Denn die Menschen, die ich bis jetzt hier beobachtet hatte, verstanden uns vielleicht besser als viele Andere und dennoch war der überwiegende Teil so kaputt, verzweifelt und verloren, dass es für sie beinahe unmöglich war, nicht alkohol-oder drogenabhängig zu werden.
„Wann war das?" Ich sah von meinen Händen auf und starrte Tarek erwartungsvoll an, der aber nur mit den Schultern zuckte.
„Sorry, aber was das Zeitgefühl angeht, bin ich wirklich nicht die beste Ansprechperson. Ich kann dir nur sagen, dass er schon länger als eine halbe Stunde weg ist." Er grinste mich an. „Glaub ich."
Malek tauchte in dieser Nacht nicht auf und ich machte kein Auge zu.
Erst im Morgengrauen hörte ich sein Ächzen, als er sich auf seine Matratze legte. Zuerst wollte ich aufspringen und ihn anschreien, ihm sagen, dass er sowas nie wieder machen sollte, aber ich entschied mich dagegen. Er war müde, die Leute um uns herum schliefen sowieso zu wenig und meine Augen fielen in dem Moment zu, in dem ich seinem gleichmäßigen Atem lauschen konnte.
***
Die Treppe knarrte unter meinen Füßen, während ich so leise wie möglich nach unten ging. Ich presste ein Auge zu, als ich auf die letzte Stufe trat.
„Aleyna?" Etwas erstarrte. Fror ein. Knackte. Brach auseinander. Ein tiefer Schmerz zog sich durch meinen Körper, ließ mich zitternd auf der letzten Stufe verharren. Sie war hier.
„Muma." Meine Stimme brach zusammen, ließ mich in Scherben zurück.
Sie tauchte vor mir auf. Ihr Kopftuch umarmte ihr wunderschönes Gesicht, die weichen Züge, das warme Lächeln. „Oh Süße, warum weinst du denn?" Sorgen überzogen den sanften Ausdruck in ihren flackernden Augen.
Ihre Stimme summte in meinen Ohren, als sie mich sanft von der letzten Stufe in ihre Arme zog. Ein Schluchzen taumelte über meine Lippen und die Tränen verloren das Gleichgewicht, liefen über mein Gesicht und hinterließen wimmernde Spuren. So viel wollte ich ihr erzählen, so viel fragen, aber mein Mund blieb voll ungesagter Dinge.
Sie war nicht wirklich da, das wusste ich. Das alles war ein Traum. Ein Traum, der niemals enden durfte. Ich konnte sie riechen. Ihr Geruch kroch in meine Nase und erinnerte mich an die Momente, in denen ich auf ihrer Brust gelegen, in ihren Armen geschlafen hatte. Ich konnte sie fühlen, als ihre sanften Hände mein Gesicht umschlossen, die meine Gedanken wärmten. Ich konnte sie sehen. Ihr vertrautes Lächeln, ihre großen Augen, die weichen Sommersprossen, die zarten Lachfältchen.
„Du fehlst mir, Muma." Ich sog zitternd die Luft ein. „Du fehlst so sehr."
„Oh Schatz", sie fuhr mir sanft über die Haare, zog mich wieder enger an ihre Brust. „Du musst endlich Frieden schließen."
Ich traute mich nicht die Augen zu schließen. Die Angst, aufzuwachen, war so gewaltig, dass ich mich hilflos an ihr festklammerte. „Ich kann nicht mehr, Muma."
Sie lehnte sich ein wenig zurück, um mich ansehen zu können. Meine Augen glitten über ihre dichten Brauen, ihre Augen, ihre langen Wimpern, über die Wölbung ihres Wangenknochens, über ihre Nase, tasteten sich die braunen Sprossen und ihre rosa Lippen entlang. „Ich weiß nicht, wohin mit der Liebe für euch." Ich atmete zittrig ein. „Da ist so viel, was keinen Platz mehr hat. Ich weiß nicht, wohin damit. Und ich habe Angst euch zu vergessen, aber gleichzeitig tut es so verdammt weh mich an euch zu erinnern." Mein Blick fiel ihrem in die Arme. „All diese Erinnerungen, an denen ich mich festhalte, sind heimatlos."
Ihre Hände ließen mich los, umschlossen mein Gesicht, während ihr Blick so eindringlich und ehrlich war, dass sich das Meer ein weiteres Mal aufbäumte und die nächste Welle über meinen Wangen zusammenbrach.
„Du sollst nicht mit unserem Tod Frieden schließen, Ali. Du fängst doch gerade erst an, den Schmerz an dich ran zu lassen." Sie nahm eine Hand von meiner Wange und tippte mit dem Zeigefinger auf meine Brust. „Mit dir. Du musst mit dir Frieden schließen. Die Hoffnung, die da in deinem Kopf umherirrt, ist so laut." Ihr Finger wanderte höher, hielt über meinem Herzen inne. „Sie ist stark genug, um das da wieder zu reparieren." Meine Arme hielten ihren Körper, als sie mich wieder an sich zog und ihre Stirn an meine lehnte. „Denn du bist viel zu lebendig, um kaputt zu sein."
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Teen FictionDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...