20. Kapitel - Nebel

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Sanft lächelten die ersten Sonnenstrahlen durch die alten Vorhänge und tauchten das bekannte Zimmer in warmes Licht. Seit Ryan und ich wieder nach oben gegangen waren, um zu versuchen weiterzuschlafen, hatte langsam der Tag begonnen.

Es war vielleicht gerade mal acht Uhr, als ich eine Bewegung an der Tür vernahm. „Ali?" Die leise Stimme meiner Großmutter ließ mich aufhorchen, ehe ich mich vorsichtig aufsetzte und sie besorgt musterte.

„Was ist los?", flüsterte ich.

Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Lippen, aber sie antwortete nicht, sondern winkte mich stattdessen zu sich.

Vorsichtig schlug ich die Decke beiseite und schlich lautlos über Tarek und Ryan zur Tür. Als ich Oma nirgends entdeckte, ging ich die Treppe hinunter, in der Hoffnung, sie dort zu finden.

Sie stand hinter der Theke und packte einige Sachen in eine kleine Tasche, bevor sie sich in meine Richtung drehte und meinem Blick begegnete. Fragend hob ich die Augenbrauen. Warum hatte sie mich geweckt?

„Möchtest du mich begleiten?" Bei ihren Worten wanderten meine Augenbrauen noch weiter in die Höhe.

„Ich wollte ein paar Besorgungen für", sie hielt inne. „Morgen machen. Neue Klamotten und Essen."

Ein verhaltenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Anscheinend hatte sie sich in den vergangenen Stunden ein wenig erholen können. Ich spürte, wie bei diesem Gedanken ein Teil von mir erleichtert aufseufzte.

„Jetzt?" Ich schaute sie überrascht an, als sie in meine Richtung kam. „Ja. Ich hol uns noch schnell Jacken." Während sie sprach, ging sie bereits zurück zur Treppe, obwohl ich noch gar nicht wirklich zugestimmt hatte.

Ich zog einen Stuhl zur Seite und ließ mich langsam darauf sinken. „Okay."

***

Als sie nach ein paar vergehenden Minuten zurückkehrte, gab ich einen überraschten Laut von mir.

„Moira?" Meine Stimme versagte, als sich die Ohren der hübschen Hündin neugierig in meine Richtung drehten, bevor sie schwanzwedelnd die Treppe hinunterlief und mich juchzend begrüßte. „Wo warst du denn?" Ich ließ mich auf die Knie gleiten, um mit Moira auf einer Höhe zu sein. „Kommt sie mit?", wandte ich mich an meine Großmutter und sie nickte lächelnd.

„Du kannst sie nehmen." Ich wusste, dass sie sich daran erinnerte, wie gern ich Moira früher gehalten hatte. Es hatte sie damals so angefühlt, die Welt aus ihren Augen sehen zu können. Zögernd hielt sie mir die Leine und eine Jacke hin. Ich nahm beides dankbar entgegen, nachdem ich mein Kopftuch zurechtgelegt hatte, ehe sie bereits nach ihrer Tasche griff und zur Tür ging.

***

„Möchtest du darüber reden?" Ich spürte den Blick meiner Großmutter auf mir, während wir durch die engen Straßen Nestoros' liefen. An ihrer Stimme erkannte ich, dass sie reden wollte, also nickte ich. Mein Blick war dabei auf Moira gerichtet, die an den Hauswänden schnüffelte.

Es war, als würde ich mich selbst nicht fühlen können, aber je weiter mir meine Gefühle entglitten, desto besser konnte ich die der anderen spüren.

Vielleicht sind meine Gefühle gar nicht wirklich meine, sondern eine Kopie von denen der anderen.

Es war keine wirkliche Leere, die dort in mir herrschte. Es ähnelte eher einem schwarzen Nebel, durch den ich nicht mehr in der Lage war, meine Gefühle zu erkennen und zu benennen.

„Worüber möchtest du reden?" Ich hob den Blick und sah ihr bei meiner Frage in die Augen. Ich vermutete bereits, worüber sie reden wollte.

„Über gestern und morgen", antwortete sie und ich hob fragend die Augenbrauen. „Nicht über heute?"

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt