„Ich bin froh, dass du angerufen hast, Ryan", David atmete hörbar aus. „Ich kann es immer noch nicht glauben."
Ich beobachtete Ryan aus dem Augenwinkel. Er musterte seinen Vater aufmerksam, ehe er durch das Fenster nach draußen blickte. Die Wälder, die die Ränder der Straßen säumten, rauschten hinter den Glasscheiben an uns vorbei und erinnerten mich einmal mehr daran, dass wir in wenigen Stunden bei David ankommen würden.
Als mein Blick den Rückspiegel streifte, bemerkte ich, dass mich David anstarrte. „Gefällt es dir hier in England, Aleyna?" Er sah kurz auf die Straße vor ihm. Sein dringender Versuch, mit seinem Sohn ins Gespräch zu kommen, war anscheinend aussichtslos. Vermutlich wandte er sich deshalb nun an mich.
„Ja. Ich habe noch nicht viel gesehen, aber bis jetzt, ist es schön hier", antwortete ich und versuchte wieder zu lächeln. Ich verstand, warum sich Ryan so distanziert verhielt, aber das hieß nicht, dass David mir nicht leidtuen durfte. Es war offensichtlich, dass er seinen Sohn kennenlernen wollte oder sich zumindest Mühe gab es so aussehen zu lassen. Er war schließlich drei Stunden hierhergefahren, um ihn zu treffen.
„Also seid ihr erst vor kurzem hier angekommen?", hakte er nach und ich schaute nervös zu Ryan hinüber. Sein Blick lag auf mir, während er mir ein schwaches Lächeln zuwarf. „Nein, wir sind nur noch nicht viel rumgekommen", entgegnete er ruhig.
David ließ mich nicht aus den Augen. „Hast du Geschwister, Aleyna?"
Mein Herz pochte laut gegen meine Brust und pumpte unangebrachtes Mistrauen durch meine Adern.
Ich habe nichts zu befürchten, erinnerte ich mich.
Ich brachte ein Nicken zustande. „Als was arbeiten Sie eigentlich?", erkundigte ich mich, bevor er noch weitere Fragen stellen konnte.
Zuerst schien er zu überlegen, aber dann lächelte er und schaute endlich zurück auf die Straße. „Hat Ryan dir das denn nicht erzählt?"
Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen und sah zu Ryan, der immer noch so aussah, als wäre er sich nicht sicher, was er von dieser Situation halten sollte. Warum sollte er mir sagen, als was sein Vater arbeitete, der ihn vor vierzehn Jahren verlassen hatte?
„Ich habe dir früher doch erzählt, als was ich schon immer arbeiten wollte", wandte David sich an seinen Sohn und schaute für einen kurzen Moment über seine Schulter zu ihm.
Ryan erwiderte seinen Blick, bevor er langsam den Kopf schüttelte. „Ich erinnere mich nicht."
David seufzte. „An so etwas sollte man sich doch erinnern können."
Bei seinem beinahe vorwurfsvollen Ton wurden meine Augen groß. Ich war mir ziemlich sicher, dass David das angespannte Verhältnis, das gerade zwischen den beiden herrschte, so nur noch weiter strapazieren würde.
„Ich bin jedenfalls Mediziner und leite eine eigene Praxis."
***
Die restliche Fahrt über versuchte David immer wieder ein Gespräch mit seinem Sohn aufzubauen, scheiterte dabei jedoch kläglich, da Ryan so kurz antwortete, dass irgendwann auch er aufgab. Stattdessen lauschten wir nun seit mehr als eine Stunde der Musik, die durch das Radio dröhnte, und hingen unseren eigenen Gedanken nach, bis David plötzlich vor einem Familienhaus hielt. Vor einem wunderschönen Familienhaus.
„Da wären wir." Er lächelte uns durch den Rückspiegel an, bevor er die Tür öffnete und wenig später meine. Ich stieg aus und schaute ihn an, auch wenn es mir schwerfiel, den Blick vom Haus abzuwenden. „Danke", murmelte ich, während das Lächeln nicht aus seinem Gesicht wich. Ryan trat neben mich und wir folgten David zum Eingang. In dem kleinen Vorgarten reihten sich die bunten Pflanzen sorgfältig aneinander, als hätte jemand erst vor wenigen Stunden das Beet von Unkraut befreit.
Wenn Ryan seinen Vater nicht selbst ausfindig gemacht hätte, wäre er wahrscheinlich für immer in dem Glauben geblieben, sein Vater würde als Drogendealer unter irgendeiner Brücke schlafen und nicht als reicher Mediziner in einem perfekten Haus mit einem wunderschönen Vorgarten.
Ich weiß nicht, welche Vorstellung ich komischer finde.
„Da seid ihr ja!", erklang plötzlich eine weibliche Stimme vor uns und ich hob ruckartig den Blick. In der Tür stand eine bildschöne Frau mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen. Blonde Haare fielen ihr über die Schultern und harmonierten perfekt mit dem kräftigen Rot ihrer Bluse. Erst als David zur Seite trat, erkannte ich das junge Mädchen an der Hand der blonden Frau. Es musterte uns neugierig und lächelte mich an, als sie meinem Blick begegnete. Ich erwiderte es und versuchte währenddessen einen Fuß vor den nächsten zu setzen.
„Miranda, Amy, darf ich vorstellen?", David stellte sich neben die Frau und das Mädchen, das wie die jüngere Version ihrer Mutter aussah, bevor er in Ryans Richtung deutete. „Das ist Ryan. Ryan darf ich vorstellen? Das ist meine Frau, Miranda, und meine Tochter, Amy."
Mir war nicht entgangen, dass er nur Amy als seine Tochter bezeichnet hatte und nicht Ryan als seinen Sohn. Ryan schien jedoch darüber hinwegzusehen, denn er ergriff lächelnd Mirandas Hand. „Freut mich Sie kennenzulernen, Miranda." Nur das angespannte Zucken seines Kiefers verriet mir, dass er gar nicht mal so entspannt war, wie es aussah.
„Ganz meinerseits", entgegnete Miranda, während Ryan leicht in die Hocke ging, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sein, und sie angrinste. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht, Amy." Er hielt ihr die Hand hin, aber sie ignorierte sie und legte stattdessen die Arme um seinen Hals. Er wirkte überrascht, aber erwiderte die Umarmung einige Augenblicke später. Automatisch legte sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Ich war mir nicht sicher, ob Ryan bereits gewusst oder vermutet hatte, dass David mit einer neuen Frau und einem Kind lebte, aber wenn nicht, nahm er es entweder überraschend gelassen auf oder ließ es sich nicht anmerken.
Mirandas strahlende Augen fielen auf mich. „Und du bist?"
„Aleyna", entgegnete ich und ergriff ihre Hand, die sie mir hinhielt, während David bereits an ihr vorbei ins Haus spazierte.
„Ein schöner Name", lächelte sie und deutete uns an, ebenfalls einzutreten.
Ryan lief hinter mir den Flur entlang, bis wir plötzlich in einem großräumigen Esszimmer standen. Ein runder, gedeckter Esstisch stand in der Mitte des Raumes. Blumen und Duftkerzen säumten die Schränke, Kommoden und Regale und füllten die Luft mit Sandelholz.
„Das Essen müsste jeden Moment fertig sein. Ihr könnt euch gerne schon Mal setzen. Amy, hilfst du Papa?" Miranda verschwand mit Amy im Raum nebenan und ließ uns alleine zurück.
Meine Augen glitten sofort zu Ryan hinauf, dessen Blick den gesamten Raum abtastete. „Hey", flüsterte ich und griff nach seiner Hand. Sofort verstärkte sich sein Griff. „Mir geht's gut", log er leise. Seine dunklen Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht, als er den Kopf neigte, um mich anzuschauen.
Ich lächelte leicht. „Ich bin da, okay? Ich bin die ganze Zeit bei dir", wisperte ich und begegnete wieder seinem Blick. Seine Mundwinkel zuckten, während er meine Hand drückte. „Ich weiß."
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
JugendliteraturDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...