54. Kapitel - Unsere Heimat

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Am Freitagabend stand ich wieder neben Flynn hinter der Theke und half dabei, die Getränke in die Gläser zu gießen und sie anschließend auf das Tablett zu stellen, mit dem Elif sie an die Leute verteilte. Die Normalität, die sich langsam auf unsere Tage legte, half mir dabei, Ruhe zu finden und ankommen zu können. Mit der Zeit fanden wir einen Weg zurück in unser Leben.

Als ich eine Alkoholflasche in den Händen hielt, verharrte ich für einen Moment und dachte an die Flasche, die Stelios in den Händen gehalten hatte. Wie viel hatte Malek wohl getrunken? Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht sein erstes Mal gewesen war. Die Zeit, in der wir nicht da gewesen waren, hatte er genutzt, um Drogen zu nehmen und Alkohol zu trinken.

Und ich habe nichts davon mitbekommen.

„Alles okay? Du siehst so aus, als hätte dir gerade ein Papagei auf den Kopf defäkiert."

Mein Blick zuckte irritiert zu Flynn, der mich von der Seite musterte. Seine blonden Locken standen heute in alle Richtungen ab, als hätte er an einen Strommast gefasst.

„Mich hat ganz sicher kein Papagei angekackt", gab ich stumpf zurück und unterdrückte ein verwirrtes Lachen. Er hob den Zeigefinger und schüttelte den Kopf, während sich ein Grinsen auf meine Lippen legte. „Das habe ich auch nie gesagt. Ich meinte nur, dass du so aussähest", erklärte er und ich schüttelte den Kopf, bevor ich mich wieder auf die Gläser vor mir konzentrierte. „Mir geht's gut."

Flynn setzte bereits wieder zu Wort an, als Elif zu uns kam und zur Begrüßung in die Hände klatschte. „Ab mit dir", wandte sie sich an mich und deutete in die Richtung des Podiums.

Ich nickte, aber gerade, als ich mich auf den Weg machen wollte, hielt sie mich zurück und drückte mir ihr Handy in die Hand. Auf dem entsperrten Display leuchtete ein Liedtext auf. „Ich glaub, das ist praktischer als ein Blattpapier, oder? Du kannst damit auch direkt die Musik steuern. Guck." Sie tippte auf den Bildschirm und ein Play-Zeichen erschien unter den Zeilen. Sie lächelte begeistert. „Da drückst du einfach drauf, wenn du soweit bist." Sie hob den Blick und ich erwiderte ihr Lächeln.

„Danke", entgegnete ich, bevor ich auf die kleine Bühne stieg und mich vor das Mikrofon stellte. Ich blickte auf den Songtext, den ich mir in den letzten Wochen bereits mehrmals durchgelesen und angehört hatte, sodass ich ihn beinahe auswendig konnte. Ihn in den Händen zu halten, falls ich ihn doch nicht mehr wusste, gab mir jedoch Sicherheit.

Zögernd schwebte mein Finger über dem Play-Symbol. Normalerweise hatte ich nicht die Kontrolle über den Zeitpunkt, an dem ich anfing zu singen. Ich musterte die Menge vor mir. Mindestens zwanzig Menschen saßen an Tischen oder lehnten an den Wänden. Ich vertiefte meine Atmung und schloss für einen Moment die Augen, ehe ich sie wieder öffnete und auf Play drückte. Ich war bei Weitem nicht mehr so aufgeregt, wie beim ersten Mal, aber das Adrenalin rauschte auch heute noch durch meinen Körper und weckte meine Nervosität.

Die langsame Hintergrundmusik des Songs drang durch die Box neben mir und ich schloss erneut die Augen. Wenn ich sang, machte ich sie immer zu. So konnte ich mich besser auf die Worte konzentrieren, die ich sang und ich hatte das Gefühl, mehr bei mir sein zu können.

Es wirkt, als würde ich seit Langem wieder fühlen können.

Ich spürte die angestauten Gefühle der letzten Tage und Wochen, die in mir brodelten wie heißes Wasser.

Energie jagte durch meinen Körper, bevor sie durch meinen Hals kroch und meine Empfindungen überschwappten. Gemeinsam mit meinem schreienden Herzen stürzten sie über meine Lippen. Alles war auf einmal da. Alle Emotionen, die ich zurückgedrängt hatte, um weitermachen zu können. Ich spürte sie. Ich hörte sie. Sie rauschten in meinen Ohren, lachten und weinten in meinen Gedanken und kreischten in meiner Brust.

Ich spürte wie die Ängste um Malek über meinen Mund hinaustorkelten und beobachtete die Hoffnung auf bessere Zeiten, die meine Worte formte. Aber vor allem fühlte ich die Kraft und lauschte dem Wissen über das, was ich war. Vielleicht war es schon die ganze Zeit da gewesen. Vielleicht war es das, wonach ich gesucht hatte.

Mein Kinn fing an zu zittern, während ich spürte, wie meine Mauern rissen und zusammenbrachen. Trauer und Hoffnung fluteten mein Dasein und hinterließen ein neues Gefühl, das warm durch meine Gedanken tropfte.

Ich öffnete die Augen, während ich weitersang. Zum ersten Mal sah ich den Menschen dort vor mir in die Augen. Sie beobachteten mich.

Mein Blick streifte zwei bekannte Gesichter und ich lächelte. Mein großer Bruder saß auf einem Stuhl an den Tischen in den hinteren Reihen. Er sah gesund aus. Erholt. Seine Augen waren groß, während er mich anschaute und zaghaft die Hand hob, um mir zu winken. Ryan stand hinter ihm und lehnte lässig an der Wand. Sein Lächeln ließ das Zittern meiner Knie verstummen, während ich weitersang und mir bewusst wurde, dass die beiden das waren, was ich verloren hatte.

Mein Zuhause.

Denn vielleicht ging es gar nicht darum, in einem Land eine Heimat zu finden. Vielleicht ging es nicht um den Ort. Vermutlich würde der Teil in mir, der immer noch floh, nie richtig ankommen können. Aber auch, wenn ich noch lange ein Flüchtling sein würde, war mir klar, dass nicht Syrien meine Heimat war, nicht England und auch kein anderes Land.

Meine Stimme hallte laut durch den Raum und ich presste die Augen fest aufeinander, während ich an meine Eltern und meine Schwester dachte, die ich verloren hatte.

Aber da war viel mehr, was nicht verloren gegangen war, was mir Gründe gab, weiterzumachen.

Ich hatte eine Heimat gefunden. Eigentlich war sie die ganze Zeit schon da gewesen, aber während ich mir selbst in den Wäldern, durch die wir geflohen waren, verloren gegangen war, hatte ich vergessen, dass ich längst besaß, wovon ich träumte. Denn kein Ort konnte mir eine Heimat sein, wie ich sie bei Tarek, Flynn und Elif gefunden hatte.

Malek und Aadil waren meine Heimat. Genauso wie Ryan.

Aber vor allem hatte ich vergessen, dass ich meine Heimat war. Dass ich die einzige Person sein würde, die für immer blieb.

Ich war dabei, ein zu Hause zu finden, aus dem ich nicht fliehen musste.

Ein zu Hause, ohne Wände und voller Erinnerungen.

Und ich bin mir sicher, dass wir diese Heimat alle in uns tragen.





Ende

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt