45. Kapitel - Ryan

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Als ich in die Richtung der Straße sah, hielt ich abrupt inne. Ryan stand mit den Händen in den Hosentaschen und der Kapuze tief ins Gesicht gezogen am anderen Ende der kleinen Gasse und schien auf mich zu warten.

Eilig lief ich auf ihn zu. Als ich nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war und sich das Licht der Laternen bereits in mein Sichtfeld schlich, entspannte sich seine Haltung und er kam auf mich zu. „Hey, alles okay?"

Ich begegnete seinem angespannten Blick und ein warmer Schauer prasselte auf meinen Nacken ein und rann meinen Rücken hinunter.

„Hi", lächelte ich und nickte.

Während wir die Straße entlanggingen, schaute ich ihn mehrmals von der Seite an. „Was ist los?", fragte ich vorsichtig und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

Seine Mundwinkel hoben sich leicht, bevor er meinen Blick entgegnete. „War nur ein anstrengender Tag." Er musterte mich. „Wie war's bei dir? Hast du wieder gesungen?"

Ich legte grinsend den Kopf in den Nacken und hielt mir die Hände vors Gesicht. „Ja", murmelte ich. „Auf englisch." Ich sah ihn wieder an. „Aber es war gut."

Er nickte lächelnd und schaute wieder nach vorne.

Irgendetwas war da. Er musste irgendetwas loswerden.

„Ist wirklich alles okay?", hakte ich noch einmal nach.

Nachdem einige Sekunden vergangen waren, rechnete ich nicht mehr mit einer Antwort und starrte stattdessen wieder auf meine Finger, die sich erneut unbemerkt zu einer Faust geballt hatten. Ich löste sie.

Als wir gerade auf den Feldweg einbogen, hielt er mich an den Schultern zurück und drehte mich zu sich. „Ich gehe morgen meine Familie besuchen." Er ließ mich wieder los und fuhr sich angespannt durch die dunklen Haare. „Zumindest den Teil, der von ihr übriggeblieben ist." Sein Grinsen war verschwunden.

Ich starrte ihn entgeistert an. „Wieso hast du mir nie erzählt, dass deine Familie hier wohnt?" Er begegnete meinem Blick.

„Das ist nicht meine", er hielt inne, schüttelte kurz den Kopf, „Das ist nicht meine richtige Familie."

Ich hob die Augenbrauen. „So hast du sie aber gerade genannt."

Er seufzte und blickte in die Richtung der Häuser. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, ehe er mich wieder anschaute. „Ich kenne sie nur von alten Bildern."

Ich schwieg, während mein Blick weiterhin fragend auf ihm lang.

„Meine Eltern haben sich getrennt als ich fünf war. Weil mein Vater Engländer ist, ist er damals einfach zurückgegangen. Meine Mutter konnte aber nicht alleine für uns beide sorgen, also hat sie die Wohnung verkauft und ist mit mir zu Freunden gezogen." Er schüttelte den Kopf und lachte leise. „Das waren aber nicht einfach nur Freunde, sondern Leute von der FSA, der Freien Syrischen Armee. Sie haben mich großgezogen."

„Deshalb weißt du das alles", flüsterte ich und er nickte nur. Ich erinnerte mich an die vielen Male, in denen ich Ryan dabei beobachtet hatte, wie er Menschen rettete. Immer wieder hatte ich mich gefragt, woher er das alles wusste.

„Komm mit." Er nickte auf die Wiese neben uns. Ohne darüber nachzudenken, folgte ich ihm. Ich wollte, dass er weitererzählte. Nachdem wir tiefer im Feld standen, ließ er sich auf den Boden nieder. Ich setzte mich neben ihn, zog die Knie an und musterte ihn, während er mich anlächelte und sich wieder abwandte. Die Lichter der Stadt flackerten über seine rechte Gesichtshälfte.

„Ich bin mit diesem Scheiß großgeworden, aber bis ich sechszehn war, hatte ich das Glück, nie aus erster Quelle mit dem Krieg in Berührung zu kommen. Ich wurde zwar jeden Tag darauf trainiert, Menschen zu retten und zu beschützen, aber das alles im Ernstfall einzusetzen, war nochmal etwas Anderes."

Er holte Luft.

„Sie haben uns angegriffen", erklärte er tonlos, „Und ich habe niemanden gerettet." Sein Blick fand meinen, als würde er wissen wollen, wie ich auf seine Worte reagierte.

Ich reagierte nicht.

Ich umklammerte einfach nur meine Beine, starrte ihn an und wagte es nicht zu atmen.

„In der Nacht, in der die Raketen runterkamen, konnte ich nicht schlafen. Ich habe das Zischen gehört, als die Dinger vom Himmel gefallen sind. Ich bin sofort zu meiner Mutter gerannt, hab sie aufgeweckt, als die Leute draußen bereits anfingen zu brüllen. Ich habe ihr gesagt, sie solle sofort in den Keller gehen." Er presste die Lippen aufeinander und legte den Kopf in den Nacken. „Sie wollte, dass ich mitkomme, aber ich wollte sichergehen, dass die Leute in den oberen Etagen wach waren. Deshalb", er holte bebend Luft, „Deshalb bin ich nicht mit ihr gegangen." Er schloss die Augen. „Als ich oben war, verstand ich die Rufe, die durch die Lautsprecher halten, zum ersten Mal. Es war kein Bombenangriff, brüllten sie. Es war ein Giftanschlag."

Mein Herz donnerte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb, pumpte unnötiges Adrenalin durch meine Adern und ließ meine Hände zitternd zurück.

„Sie hatten 56 Liter Sarin auf unsere Stadt fallen lassen. Eines der giftigsten Kampfstoffe der Erde. Die Leute riefen immer wieder, wir sollten nach oben laufen, so schnell wir könnten. Ich verstand damals nicht, warum wir aufs Dach sollten. Als immer mehr Menschen zu uns nach oben kamen, wurde ich unruhig. Ich wollte meine Mutter suchen, aber wurde zurückgehalten. Jemand erklärte mir, dass Sarin sich wie feiner Staub in Bodennähe sammelte, also durfte niemand mehr runter."

„Nein." Er sah kurz in meine Richtung, ehe er sich wieder abwandte. Seine Augen glitzerten.

„Ich habe nicht nur meine Mutter getötet, Ali. Ich habe so viele nach unten geschickt, ihnen gesagt, dass alles gut werden würde. Kinder, junge Menschen, alte Menschen, alle, die ich finden konnte. Die meisten waren bereits nach einer Minute tot. Menschen in den unteren Etagen, die nicht wach geworden waren. Tot. Die Menschen, die instinktiv Schutz im Keller gesucht haben. Tot. Alle."

Sein Kinn fing an zu zittern, als er versuchte ruhig auszuatmen. „Ryan." Ich wischte, das salzige Wasser, das mir über die Wangen lief, fort und lehnte mich in seine Richtung. „Ryan", wiederholte ich. Als mir klar wurde, dass er meinen Blick nicht erwidern würde, nahm ich sein Gesicht sanft in meine Hände und zwang ihn dazu, mich anzusehen. „Du hast niemanden umgebracht", wisperte ich in die Dunkelheit. Ich wollte ihm so viel sagen. Ihm immer wieder erklären, dass er keinen dieser Menschen getötet hatte. Aber ich wusste, dass all meine Worte nichts daran ändern konnten, dass er es glaubte. Dass er glaubte, diese Menschen hätten überlebt, wenn er ihnen nicht begegnet wäre, dass er dachte, seine Mutter wäre noch am Leben, hätte er nicht versucht zu helfen. Er fühlte sich verantwortlich für all die Leute, die in der Nacht in diesem Hochhaus gestorben waren.

„Möchtest du, dass ich morgen mitkomme?", flüsterte ich und beobachtete seine markanten Gesichtszüge. Ich wusste nicht, ob es ihm helfen würde, wenn jemand bei ihm sein würde, den er besser kannte, aber...

Plötzlich spürte ich seine warme Hand an meiner Wange, bevor er mit dem Daumen sanft eine Träne wegwischte.

„Ja."

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt