Wortlos hielten wir uns fest. Ich hatte das Gefühl, wir würden uns hinter fiktiven Mauern verstecken, um dem Schmerz Einhalt zu bieten. Ich starrte auf einen Punkt zwischen Licht und Schatten und versuchte, die Worte meiner Großmutter zu verstehen, aber ihre Bedeutung war zu groß, als dass ich sie hätte begreifen können.
Ich weinte nicht, als ich Oma losließ und zurück auf den Boden sank. Maleks Augen zuckten flirrend über die Holzdielen, als würde er nach etwas suchen.
„Und was jetzt?", dachte Malek laut. Die Augen meiner Großmutter glitten zu ihm und sie schniefte, während er sich aufrichtete und an einem der runden Tische abstützte. Mein Blick begegnete für einen kurzen Moment Ryans, dessen Finger nachdenklich an seinem Kinn lagen. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe." Bei den Worten meiner Großmutter blickte ich wieder zu ihr. Ich wusste nicht, woher ich das Wissen nahm, aber plötzlich war mir klar, was sie damit versuchte zu sagen.
Sie wusste nicht, ob sie es mit uns schaffen würde.
Mein Herz schlug hilflos gegen meine Brust, bei dem Gedanken, dass wir auch hier nicht bleiben durften.
Wir haben keine Kraft mehr, um weiter zu suchen.
„Was schaffst du nicht?", fragte Malek vorsichtig und ich schloss die Augen. Ich spürte, wie sich die Nägel in meine Hand bohrten und sich der physische Schmerz mir dem psychischen mischte.
„Ich weiß nicht, ob ich für euch sorgen kann", schluchzte sie, während meine Gedanken krampfhaft nach einem Ausweg aus diesem Albtraum suchten.
„Ist schon okay", hörte ich Malek sagen und erkannte, dass ihm nicht klar war, was Oma damit sagen wollte. „Wir schaffen das schon. Du wusstest ja nicht einmal, dass wir kommen würden", versuchte er sie zu beruhigen.
Ich öffnete wieder die Augen und sah, wie Malek unserer Großmutter ein schwaches Lächeln schenkte, ehe sie ihr Gesicht in den Händen vergrub und ihre Schultern heftig bebten.
Maleks Kinn fing erneut an zu zittern. „Es wird alles gut", wisperte er und ich legte sanft eine Hand auf seine Schulter. Sein Blick wanderte zurück zu mir, als Oma tief Luft holte, um zu Atem zu kommen. Ich wusste nicht ganz wieso, aber plötzlich war mir klar, dass wir hier nicht bleiben würden können. Es war zu klein. Wir waren zu viele.
„Ich wusste, dass ihr kommt, Malek", wisperte sie und ich sah, wie er zusammenzuckte.
„Papa hat dir noch Bescheid geben können?" Malek kannte die Antwort, aber er fragte trotzdem.
„Er hat gesagt, dass euch ein junger Mann begleiten wird. Ich habe mich so auf euch gefreut." Ihre Stimme brach und ich griff nach Maleks Hand, um sie festzuhalten. „Aber dann", fing sie an, aber schaffte es nicht, den Satz zu beenden. „Ich schaffe das nicht", wisperte sie erneut und ich hörte, wie schwer das Gewicht ihres Schamgefühls auf ihren Schultern lastete.
Minuten vergingen, in denen Malek und ich versuchten zu verstehen, was gerade passiert war. Unsere gesamten Pläne und Ziele existierten nicht mehr. All unsere Hoffnungen ergaben keinen Sinn mehr.
„Und jetzt?" Maleks Stimme riss mich zurück aus meinen Gedanken und ich starrte ihn an, ohne ihn richtig sehen zu können. Ich war gar nicht mehr richtig anwesend, denn die Kammern, in denen ich meine Gefühle unter Verschluss hielt, knackten bereits gefährlich.
Ich will nicht fühlen.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir Morgen darüber reden. Es ist schon spät und du solltest dich erholen", schlug ich vor und bemühte mich um einen gefassten Ton. Die vom Weinen geröteten Augen meiner Großmutter glitten zu mir, bevor Malek langsam den Kopf schüttelte.
„Nein. Ich muss wissen, wie es jetzt weitergeht", entgegnete er barsch und ich unterdrückte nur schwer den Drang, einfach zusammenzusacken und die Augen zu schließen. Das würde um einiges einfacher sein. Ich brauchte eine Pause. So viele Veränderungen ertrug ich nicht. Wir waren bereits am Ende gewesen, als wir das Restaurant betreten hatten. Sobald auch ich an mich ranlassen würde, an was Oma zerbrach, würde ich keine Kraft mehr haben, um für Aadil und Malek zu sorgen.
Und die beiden waren das einzige, das mir noch blieb. Also atmete ich tief durch und drängte die Gefühle zurück in die Ecken, aus denen sie gekommen waren.
„Ich könnte euch mitnehmen", erklang plötzlich Ryans Stimme und mein Blick zuckte irritiert zu ihm. Er lächelte leicht, als er unsere verwirrten Gesichter sah. „Ich fahre Übermorgen nach England. Falls ihr mitwollt, ließe sich das einrichten."
Keiner sagte etwas, während sich Ryan mit dem Rücken an die Theke lehnte, die Arme vor der Brust verschränkte und die Beine überkreuzte. Abwartend beobachtete er uns.
„Und wie genau kommst du auf die Idee, dass wir mit nach England wollen?", erwiderte Malek nach einigen stillen Sekunden und Ryans Mundwinkel zuckte leicht.
„Na ja, soweit ich weiß, könnt ihr besser Englisch als Griechisch." Schweigend starrten wir ihn an. Zwar war die Idee gut, jedoch war die Vorstellung, übermorgen erneut aufzubrechen, so absurd, dass ich bei dem Gedanken beinahe lachen musste.
„Wie kommst du da hin?", fragte Malek weiter und ich blickte aufmerksam zwischen den beiden hin und her.
„Ich habe Kontakt zu einem LKW-Fahrer. Er bringt Wein von Griechenland nach England", erklärte Ryan. „Ab und zu schleust er auch ein paar Flüchtende über die Grenzen."
Malek wirkte skeptisch und ich war anscheinend nicht die einzige, die das bemerkte, denn Ryan fuhr fort. „Er hat schon Mehrere über die Grenze gebracht, ohne erwischt zu werden. Wenn ihr mitwollt, kann ich das organisieren."
Malek löste sich abrupt von Oma und richtete sich auf. Das leichte Abfedern seines verletzten Beines war kaum wahrzunehmen und doch schlug mein Herz schneller, als ich es bemerkte.
„Wir haben kein Geld", erinnerte Malek Ryan, der sich daraufhin vom Tresen abstieß und auf meinen großen Bruder zutrat. „Ich kann es euch vorstrecken."
Malek fuhr sich unruhig durch die Haare, während ich sah, wie Oma die Augen schloss und ihr eine Träne über die Wange lief. Etwas zog unangenehm in meiner Brust, weil ich wusste, was ihr gerade durch den Kopf ging. Sie schämte sich. Dafür, dass sie nicht dazu in der Lage war, unsere Eltern zu ersetzen und für uns zu sorgen.
„Überlegt es euch", sagte Ryan, als er merkte, dass Malek heute nicht mehr in der Lage sein würde, eine Entscheidung zu treffen. Meine Hände zitterten, während mein Herz aufgeregt gegen meinen Brustkorb schlug, denn ich hatte einen Entschluss gefasst.
„Wir kommen mit", antwortete ich anstelle von Malek. Die Blicke der beiden glitten überrascht zu mir und ich zuckte als Antwort nur mit den Schultern. „Uns bleibt nichts anderes übrig."
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Teen FictionDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...