Frische Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Löcher in den Wänden und weckten mich. Als ich mich auf Ryans Seite rollte, war er nicht mehr da. Verwirrt setzte ich mich auf und blickte mich in der kleinen Kajüte um, die so langsam zu einer schwankenden Gewohnheit wurde. Seit das Boot abgelegt hatte, war ich nicht ein Mal draußen gewesen. Ich hatte den Menschen, die dort saßen und genau wie wir darauf hofften, irgendwann anzukommen und ihre Geschichten erzählen zu können, nicht ein Mal in die Augen gesehen.
Lautlos tapste ich zur Leiter, um nach Aadil zu suchen, der immer noch oben sein musste und den ich mehrere Stunden lang nicht mehr gesehen hatte. Ich machte mir Sorgen. Gerade als mein Fuß über der ersten Stufe schwebte, hustete Malek hinter mir und mein Kopf schoss herum. Seine Augenlider sahen so aus, als täte er sich schwer damit, sie aufzuhalten, und dennoch lag sein Blick auf mir. „Aleyna", hauchte Malek und verzog schmerzhaft das Gesicht. Sofort war ich an seiner Seite.
„Hey", wisperte ich und ignorierte das Ziehen in meiner Brust, während sich meine Hände sanft um sein Gesicht legten. „Wie fühlst du dich?" Mein Daumen strich ruhig über seine kalte Wange. Malek lachte leicht. „Kaputt", entgegnete er und ein müdes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Und faul."
Ein Lachen taumelte über meine Lippen und übertönte die Schreie unserer Hilflosigkeit, die seit Wochen wie schwarze Regenwolken über unseren Köpfen kreiste.
„Alles gut da unten?", erklang plötzlich Ryans Stimme von oben und ich fuhr zusammen. Maleks Mundwinkel zuckten, bevor er wieder seufzend die Augen schloss und ich mich zögernd aufrichtete. „Ich geh Aadil holen, okay?", fragte ich und er nickte, ohne dabei die Augen zu öffnen. Ein paar Sekunden rührte ich mich nicht von der Stelle und starrte ihn an. Ich wollte Malek nicht alleine lassen, obwohl ich wusste, dass ich in wenigen Minuten wieder bei ihm sein würde. Zögernd ging ich zur Leiter.
Als ich oben ankam, hob ich überrascht die Augenbrauen. Ryan saß breitbeinig auf dem Boden und lächelte zu Aadil hinunter, der zwischen seinen Beinen lag und zu ihm aufblickte. „Wieso habt ihr gelacht?", richtete er sich an mich, sah dabei jedoch nicht auf.
Meine Überraschung über Ryans Sanftheit im Umgang mit Aadil zeugte von den Vorurteilen, die sich in meinem Kopf eingenistet hatten, wie schwarze Spinnen. Als ich ihm das erste Mal begegnet war, hatte ich unbewusst nach einer Schublade gesucht, in die er passte, aber Ryan hatte bereits mehrmals bewiesen, dass er zu bunt für meine schwarzweißen Gedanken war. Ich schämte mich für diesen Abwehrmechanismus, der mich manchmal daran hinderte, zu erkennen, dass wir Menschen nicht nur mit einer Farbe gemalt wurden. Wir alle waren bunte Kunstwerke voller Gedanken und Gefühle. Aber auch wenn ich mich ständig daran erinnerte, klappte es nicht immer. Ich vergaß zu oft, dass nicht alle Menschen so waren, wie der Mann, der Malek angeschossen hatte. Diese ganzen schwarzweißen Gedanken, die durch das Misstrauen, das der Krieg in mir hinterlassen hatte, entstanden waren, waren eine ständige Reminiszenz daran, dass ich nicht perfekt war.
Ich will gar nicht perfekt sein.
„Aleyna?" Ryans nussbraune Augen bohrten sich aufmerksam in meine, während ich lächelnd den Kopf schüttelte. „Belanglos", murmelte ich und blickte zu Malek.
„Wann sind wir nochmal da?", wechselte ich das Thema und Tareks linker Mundwinkel hob sich amüsiert, als er kurz zu mir schaute. „In vier Tagen."
Ich nickte langsam. Vier Tage. Also würden wir in sechs Tagen bei meiner Großmutter ankommen. Sie wohnte in Nesteros, einem kleinen Vorort von Athen. Weite Felder säumten dort die Umgebung, sodass wir einen Bogen um die Gegenden machen konnten, in denen sich viele Menschen tummelten. Wenn wir ohne Probleme durchkommen wollten, würde es unsere höchste Priorität sein, so wenig Leuten wie möglich zu begegnen.
Es gab viele Seelen dort draußen, die uns in Griechenland nicht willkommen heißen würden. Menschen, die Angst vor Veränderung hatten. In diesem Falle würden wir die Veränderung sein. Wir Flüchtlinge.
Ich glaube aber, nicht wir waren das, wovor sie sich fürchteten. Ihre Angst war das Resultat der Unsicherheit, nicht zu wissen, wie sie mit uns umgehen sollten.
Manche vergessen, dass wir gar nicht so anders sind. Dass die meisten von uns nur ankommen wollen.
„Ich wollte mal nach draußen gehen, um zu schauen, ob jemand Hilfe braucht. Kommst du mit?", richtete sich Ryan plötzlich an mich und ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Nickend kam ich auf ihn zu und beugte mich vor, um Aadil hochzuheben. „Gerne."
Mit Aadil in den Armen stieg ich vorsichtig die Leiter hinunter, ehe ich zu Malek zurück ging. Er hatte sich nicht bewegt, nur seine Augen lagen interessiert auf uns. Vorsichtig nahm er meinen kleinen Bruder entgegen und lächelte mich dankbar an, als Aadil die Arme um seinen Hals schlang. Malek hatte nicht allein sein wollen.
„Ich geh kurz mit Ryan raus, okay?", fragte ich Malek, bevor seine Augen skeptisch zu Ryan glitten. „Was habt ihr vor?" Er sah zurück zu mir.
„Wir schauen, ob jemand Hilfe braucht. Dauert nicht lange", erklärte ich und er schloss seufzend die Augen. „Ich bin sowieso nicht im Stande dazu, dich aufzuhalten."
Malek hatte mich schon früher nicht gerne alleine gelassen. Zumindest nicht, wenn er die Menschen, mit denen ich unterwegs war, entweder nicht gut kannte oder sie männlich waren.
In diesem Falle trifft vermutlich beides zu.
„Stimmt." Ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich den beiden zum Abschied durch die Haare wuschelte und anschließend zu Ryan ging, dessen Hand bereits auf der Klinke lag. „Ich bin sofort wieder da", verabschiedete ich mich, ehe wir nach draußen traten. Frische Luft peitschte über das weite Meer und rauschte laut in meinen Ohren, als der Wind nach meinen Haaren griff.
Für einen Moment schloss ich die Augen und legte lächelnd den Kopf in den Nacken. Kleine Regentropfen fielen aus den Wolken, als würden die Sterne weinen, die wir nicht sehen konnten. Die Unendlichkeit, die dort über uns lag, war eines der wenigen Dinge, die mir geblieben waren und an denen ich mich festklammerte, als gäbe es keinen Morgen mehr.
Der Regen prasselte stärker auf uns ein, sodass ich die Augen wieder öffnete und mich suchend nach Ryan umschaute. Er hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und schien mich aufmerksam zu beobachten.
„Können wir?" Seine Stimme mischte sich unter das laute Prasseln und ich starrte für ein paar Sekunden weiter in den regnerischen Nachmittagshimmel hinauf. „Ja."
***
Stunden verbrachten Ryan und ich damit, den Menschen in unserer Umgebung zu helfen. Einige waren seekrank, manche hatten weder Essen noch etwas zu trinken dabei und andere starrten uns einfach schweigend an, während wir sie fragten, ob wir ihnen helfen könnten. Ab und zu ging ich zurück zu Malek und Aadil, um auch für sie da zu sein und die besorgten Stimmen in meinem Kopf ruhiger zu stimmen.
Als ich für einen kurzen Moment auf das Meer hinausblickte, fiel mir auf, dass sich die letzten Sonnenstrahlen, wie Finger über die Wellen in unsere Richtung reckten. „Ich glaube, das reicht fürs erste", erklang Ryans Stimme plötzlich hinter mir und ich wandte mich zu ihm. Fragend wanderten seine Augenbrauen in die Höhe, als er mich musterte. „Wo ist deine Jacke?"
Im ersten Moment war ich verwirrt, da ich vergessen hatte, dass ich einer älteren Frau meine Jacke gegeben hatte, aber dann glitt mein Blick suchend über die enganeinander stehende Menschenmenge und blieb an dem bekannten Gesicht der Frau hängen. Als sie mich wiedererkannte, legte sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen und ich erwiderte es. „Dort", antwortete ich und nickte in die Richtung der Dame.
Ryans Augenbrauen hoben sich erneut, bevor er wieder zu mir schaute. „Du weißt, dass du keine andere Jacke hast", erinnerte er mich und ich nickte. „Aber sie hat sie dringender gebraucht."
Seufzend schüttelte Ryan den Kopf, aber seine Lippen hatten sich zu einem sanften Lächeln geformt. „Lass uns reingehen."
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Teen FictionDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...