In den nächsten Wochen, die sich langsam zu einem Monat formten, wog ich mich in dem Dickicht der Normalität und genoss die Ruhe, die sich mit jedem weiteren Tag, an dem ich sang oder Ryan sah, in mir ausdehnte. Wir hatten uns zwar nicht mehr geküsst, seit wir bei seinem Vater zu Besuch gewesen waren, aber wenn ich seine Stimme hörte oder er meine Hand hielt, fühlte es sich an, als würde ich über die weichen Saiten einer Violine streichen.
Als ich am Freitag wieder vor dem Mikrofon stand, fiel mir auf, dass sich heute deutlich mehr Menschen in dem kleinen Restaurant tummelten, als es üblich war.
„Gibt es einen Grund dafür, dass heute so viel los ist?", fragte ich William, nachdem ich vom Podium gestiegen war und ein Glas kaltes Wasser meine trockene Kehle hinunterkippte.
„Ich glaube, der Grund steht neben mir", grinste William mich von der Seite an, bevor er sich wieder den Getränken zuwandte, dessen Inhalte er sorgfältig in die Gläser vor ihm laufen ließ.
Ich zog die Augenbrauen zusammen, weil ich mir sicher war, dass nicht ich der Grund dafür war, dass der Geräuschpegel heute doppelt so laut war wie noch vor einer Woche, und legte den Kopf schief. „Glaub ich nicht."
William zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Und ich glaube, dass es mir egal, was du glaubst."
Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und ich schüttelte grinsend den Kopf, bevor ich das Glas zurück auf die Theke stellte und zurück zum Mikrofon lief. Williams Art mit Menschen zu kommunizieren war... anders. Gröber. Aber so langsam fand ich einen Weg, damit umzugehen und es sogar an ihm zu mögen.
Als ich die nächsten Lieder sang, blieben meine Augen geschlossen. So konnte ich nicht sehen, wie die Leute mich anschauten und nur so hatte ich das Gefühl, die Worte richtig verstehen zu können, die meine Lippen formten. Ich ließ mich nicht so schnell verunsichern. Zumindest für den Moment.
Während ich die Augen wieder aufschlug, fiel mir auf, dass es in den vergangenen Minuten draußen bereits deutlich dunkler geworden war. Es war immer noch hell, aber ich ahnte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die abendliche Kälte durch die Tür kriechen und William die Tür schließen würde.
Gerade als ich den Blick von den Menschen vor mir wenden wollte, fiel mein Blick auf einen jungen Mann mit wunderschönen Gesichtszügen und bekannten, braunen Augen. Er lehnte ganz hinten an der Wand und starrte mich an. Ryan.
Mein Herz machte einen Sprung.
Ryan ist hier.
Ich bemerkte erst gar nicht, dass ich bereits eine Weile wie eingefroren auf der Bühne stand und ihn ungläubig anstarrte, als hätte ich gerade eins der laufenden Skelette gesehen, von denen Flynn letztens noch gesprochen hatte, bis Ryan fragend eine Augenbraue hob. Das Zucken seiner Mundwinkel verriet, dass er vermutlich mit dieser Reaktion gerechnet hatte.
Ich blinzelte kurz, ehe ich vom Podium lief und direkt auf ihn zusteuerte. Meine Lippen formten sich währenddessen automatisch zu einem Lächeln, woraufhin seine andere Augenbraue nun auch in die Höhe wanderte und er die Kapuze zurückzog, die seine dunklen Haare verborgen hatte. „Was machst du denn hier?", fragte ich, hielt die Stimme dabei aber bewusst gesenkt und glitt mit den Augen noch einmal über die unterschiedlichen Gesichter in unserer Nähe, bevor ich seinem Blick begegnete. „Reine Neugier." Als er merkte, dass mir das als Antwort nicht reichte, lachte er leise. „Ich konnte früher gehen, deshalb wollte ich dich abholen."
Ich schüttelte den Kopf, konnte aber nicht verhindern, dass die Freude auf meinen Lippen ein Grinsen hinterließ. „Ich bin sofort wieder da", sagte ich, ehe ich zu Elif lief, die ich an der Theke entdeckte. Als ich bei ihr ankam, hob sie überrascht den Kopf und sah von ihrem Zettel auf.
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Teen FictionDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...