Keiner wagte es sein Gepäck zu öffnen, geschweige denn sich in irgendeiner Art und Weise zu bewegen. Jeder in diesem Heuschuppen hatte Angst, wir könnten entdeckt werden. Als ich die anderen acht Menschen beobachtete, fiel mir auf, wie wachsam sie waren. Als würden sie nur darauf warten, weiter zu flüchten. Ihre Rastlosigkeit machte mich traurig. Die Vorstellung, dass sie vielleicht niemals eine Heimat finden werden, in der sie zu Atem kommen könnten, war furchtbar.
Der Junge von eben, die Frau und ihr Kind, der ältere Mann und wir, Aadil, Malek, Tarek, Ryan und ich. Wir hatten es bis hierher geschafft.
Der Krieg mag vielleicht einen Teil unseres Lebens zerstört haben, aber noch hatten wir uns.
Wir sind geblieben.
Ich hatte oft darüber nachgedacht, wie mein Leben ausgesehen hätte, wäre meine Heimat nicht von Grauen geflutet worden. Vermutlich wäre ich nicht annähernd die, die ich nun war. Durch die Angst und die Radikalität, die in unserem zu Hause tobte, hatten wir gelernt, die Zeit zu schätzen.
Die Zeit, an der unsere Leben hingen.
Die Zeit, die der Wind verwehte, noch ehe sie wie Sand aus den Fingern rann.
Immer noch herrschte angespanntes Schweigen, das sich wie eine schwere Decke um unsere Schultern gelegt hatte. Mein Magen schmerzte, seitdem ich aufgestanden war, aber die Angst hielt mich davon ab, den Rucksack zu öffnen und das Tuch mit unserem Essen aufzuwickeln.
„Ich glaube, wir sind sicher", wisperte Tarek und augenblicklich sackten die Schultern der Anderen erleichtert hinunter. Anscheinend hatte nur jemand diese Worte aussprechen müssen, um die ängstliche Spannung im Raum zu lockern, denn wir waren nicht sicher. Zumindest konnten wir uns nie sicher sein, dass wir sicher waren. Stillschweigend ließ ich den Kopf an den Heuballen neben mir sinken und schloss die Augen. Mein Herz schien noch nicht richtig mitbekommen zu haben, dass ich nicht mehr Amok lief, denn es rannte immer noch hilflos gegen meine Brust.
„Einer sollte wach bleiben", flüsterte eine fremde Stimme und ich öffnete die Augen, sodass ich sehen konnte, wie Ryan zustimmend nickte, der an dem Holzbalken etwas abseits von mir lehnte. Meine Augen glitten über seine Arme, die er vor der Brust verschränkt hatte, zu den nachdenklichen Furchen zwischen seinen Augenbrauen, bis zu dem angespannten Zucken seines Kiefers, während sein Blick langsam zu mir wanderte, als hätte er gespürt, dass ich ihn anstarrte. Sein rechter Mundwinkel hob sich, gemeinsam mit seinen Augenbrauen, weshalb ich mich schnell abwandte und mit warmen Wangen den Schuppen genauer betrachtete. Als Ryan sich plötzlich aufrichtete und in meine Richtung kam, stolperte mein Atem überrascht, aber ich versuchte mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen.
Vorsichtig fuhr ich mit einer Hand durch Maleks lange Haare, dessen Kopf in meinem Schoß lag und strich Aadil, der an meiner Brust schlief, beruhigend über den kleinen Rücken. Beide wachten nicht auf, als Ryan sich auf meine andere Seite niederließ und die Beine lässig überkreuzte. Langsam erwiderte ich seinen Blick, aber schwieg weiterhin. Ich musste daran denken, dass er eigentlich gar nicht hier wäre, wenn Malek nicht angeschossen worden wäre.
„Wieso?", wisperte ich so leise, dass es selbst für ihn schwer sein musste, mich zu verstehen.
Ryan wandte sich zu mir und musterte mich aufmerksam. „Die ganze Welt ist ein Wieso. Geht's etwas genauer?"
Ich blickte zu Aadil, der ein friedliches Lächeln auf den Lippen trug. In mir tummelten sich so viele Fragen, dass ich gar nicht wusste, wie ich seine beantworten sollte. „Eigentlich nicht, nein", sagte ich deshalb und er lachte leise, ehe eine andere Frage durch meinen Kopf tobte. „Hast du Kontakt zu Ahmed?", fragte ich und bekam ein Nicken als Antwort. „Weißt du, wie es ihnen geht?" Mir war klar, dass Ryan wusste, wen ich mit ihnen meinte. Er unterbrach unseren Blickkontakt und beobachtete stattdessen die Menschen, die angespannt und erschöpft auf dem Boden lagen oder saßen und sehnsüchtig auf den nächsten Tag warteten.
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Roman pour AdolescentsDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...