22. Kapitel - Jetzt

904 96 24
                                    

Die gesamte Einrichtung des Restaurants war voller Wärme und strahlte eine Gemütlichkeit aus, die ich noch von früher kannte. Die Gegenstände und Möbelstücke waren alt und benutzt, aber vermutlich war es genau das, was diesen Ort so friedlich wirken ließ. Auch der Tisch, den wir mittlerweile fertig gedeckt hatten, ließ mich glauben, dass dieser Tag normal und in Ruhe enden würde. Die Tasche mit den Sachen, die Oma für uns besorgt hatte, lehrte mich jedoch eines Besseren.

Die Kerzen und das warme Essen, das nun auf dem Tisch stand, ließen mich hoffen. Darauf, dass sich solche Abende für uns irgendwann wieder normal anfühlen würden.

Als Tarek mit Malek die Treppe runterkam und Ryan mit Aadil in den Armen zu mir lief, war ich gerade dabei, unsere Gläser mit Wasser zu füllen. Lächelnd stellte ich die Kanne zurück auf den Tisch und nahm meinen kleinen Bruder entgegen. „Danke."

Ryan erwiderte mein Lächeln und beugte sich etwas vor, sodass nur ich seine Worte verstehen konnte. „Nächstes Mal kannst du auch einfach rauskommen."

Meine Augen wurden groß, während er sich zu den anderen an den Tisch setzte und mein Blick ihm folgte. Hatte er gesehen, dass ich sie beobachtet hatte?

„Kannst du dich bitte hinsetzen? Ich habe Kohldampf", brummte Malek und ich löste mich aus meiner Starre, ehe ich mich schweigend neben ihn auf den freien Platz sinken ließ.

„Darf ich ihn mal nehmen?" Omas Blick lag auf Aadil und ein schwaches Lächeln breitete sich auf meine Lippen aus, ehe ich ihr Aadil in die Arme legte. Sie schien glücklich darüber, ihren jüngsten Enkel endlich kennenlernen zu dürfen.

Obwohl das letzte Essen lange her war, hatte ich keinen richtigen Hunger. Stattdessen beobachtete ich, wie Malek über sein Essen herfiel und die Anderen ebenfalls zufrieden den Moussaka aßen.

„Also,", ich schob meinen Teller, auf dem immer noch unberührter Moussaka lag, zur Seite und sah zu den drei Männern. „Wie wird es morgen ablaufen?" Fragend hob ich die Augenbrauen.

„Also", wiederholte Ryan und mein Blick zuckte in seine Richtung. „Deine Großmutter wird uns morgen früh, gegen sechs Uhr, auf einen abgelegenen Feldweg fahren. Da wird Callisto auf uns warten. Die Weinkästen in dem Kleintransporter sind streng sortiert und festgebunden, deshalb werdet ihr auch nicht einfach so ein-und ausgehen können. Malek, Tarek und du werdet euch hinter den Weinkästen verstecken. Ich werde vorne als Helfer mitfahren, weil ich englische Wurzeln habe und mich zur Not ausweisen kann." Ryan machte eine kurze Pause, als wollte er sichergehen, dass ich ihm folgen konnte, deshalb nickte ich leicht und er fuhr fort.

„Trinken und Essen geben wir euch von vorne durch. Falls ihr auf Toilette müsst, gibt es Dosen oder Flaschen. Was die Fahrt angeht." Er machte erneut eine Pause.

„Nach ungefähr drei bis vier Tagen werden wir da sein. Zuerst werden wir mit der Fähre nach Italien fahren, von dort weiter über die Autobahn, bis zum Eurotunnel." Ryan fixierte mich aufmerksam.

„Callisto meinte, bis zum Tunnel zu kommen, sollte kein großes Problem sein. Dann werden wir mit irgendeiner Bahn durch ihn hindurchfahren. Diese Fahrt dauert nur circa eine halbe Stunde. Wenn wir es da durch geschafft haben, sollte eigentlich nichts Großartiges mehr passieren", ergänzte Tarek ihn und ich nickte.

„Callisto wird uns noch ein Stück fahren, aber von da an müssen wir zu Fuß weiter. Es sollte aber nur wenige Minuten dauern, bis wir an einer stillgelegten Lagerhalle ankommen werden, in der auch andere Flüchtlinge leben. Das ist unser Ziel."

Meine Hand strich ruhig über die weichen Haare von Aadil, während die Augen der Anderen auf mich gerichtet waren.

„Wieso klingt das so einfach?", fragte ich und wusste selbst nicht so ganz, ob ich die Frage ernst meinte.

„Weil es nicht so schwer sein wird, wie wir es uns eingeredet haben."

Das alles klang nach einer ziemlich langen Fahrt und nach neuen Problemen, aber in den vergangenen Stunden war ich alle möglichen Horrorszenarien durchgegangen, sodass der Plan nun im Gegensatz dazu um einiges einfacher klang.

Meine Augen wanderten über die Vorhänge, bis zu dem Fenster, direkt neben der Eingangstür. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden bereits hinter den hohen Dächern, sodass ich wusste, dass wir nur noch wenige Stunden hatten, in denen wir alles vorbereiten konnten.

Für einen Moment schloss ich die Augen, weil ich das Gefühl hatte, dass wir nie zur Ruhe kommen durften. Wir setzten uns neue Ziele, wenn die alten unerreichbar wurden. Wir webten neue Hoffnung, um neue Kraft zu schöpfen und wir machten weiter, um irgendwann anzukommen.

Wir waren müde, weil wir nicht mehr konnten. Weil wir Angst hatten.

Vor unseren Erinnerungen, die vergänglich waren und vor dem, was nun vor uns lag.

Wir dachten viel zu oft an Vergangenheit und Zukunft. Dabei vergaßen wir oft, dass wir das Gestern nicht ändern konnten und das Morgen nicht kannten.

Das, was uns in diesem Moment bleibt, ist das Jetzt.

„Ich gehe mal kurz auf die Toilette", murmelte ich und erhob mich. Nur Ryan schien mich länger zu beobachten, als wüsste er, was in meinem Kopf vor sich ging, aber ich wich seinem Blick aus.

Während sich die Gespräche von ihnen immer weiter entfernten, lief ich die Treppe hinauf und ging am Badezimmer vorbei, in die Richtung der Terrasse. Ich brauchte frische Luft. Mein Atem zitterte, als ich die Tür zur Seite zog und hinaustrat.

Die Terrasse war groß. Bunte Pflanzen füllten die leblosen Ecken mit Farben und ließen die große Leere in meiner Brust heller wirken.

Ich schloss die Augen, während sich meine Hände am Geländer festhielten. Ruhig atmete ich die klare Luft ein und versuchte mein panisches Herz unter Kontrolle zu bekommen. Ich wusste nicht, was mit meinem Körper los war.

Als mein Herz plötzlich anfing zu rasen und ich nur noch schwer Luft bekam, fingen meine Knie an zu zittern und ich spürte die Ängste, die wie dunkler Nebel durch meine Gedanken schlichen.

Der Schmerz war da und zerrte an den Türen, hinter denen ich meine Gefühle gefangen hielt.

„Was ist los?"

Ryans Stimme ließ mich zusammenzucken, bevor meine Finger das kalte Geländer umklammerten und ich mich langsam umdrehte.

Er lehnte ihm Türrahmen. Erst als ich ihm länger in die Augen sah, erkannte ich die Sorge in seinem Blick. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und zwischen seinen Augenbrauen hatten sich besorgte Furchen gebildet.

„Hey." Seine Stimme war weich geworden und die Furchen auf seiner Stirn verschwanden. „Wieso weinst du?"

Ich antwortete nicht auf seine Frage, sondern trat stattdessen auf ihn zu und legte meine Arme um seinen Oberkörper. Mein Kopf sank an seine Brust und ich schloss die Augen. Sofort erwiderte er die Umarmung und wir hielten uns fest.

Meine Gedanken wurden leiser, kamen zur Ruhe, während wir uns schweigend in den Armen hielten.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt