2. Kapitel - Anders

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Wir schlichen durch die Wälder Syriens, während sich das wachsame Klopfen meines Herzens unter unsere Schritte mischte. Der Wind strich mir sanft durch die Haare und wirbelte flüsternd durch die orangen Farben des Laubs, das sich leblos unter den Bäumen gesammelt hatte.

Der Wald tat sich auf und eine verlassene Straße säumte die Ferne. Die Schultern meiner Eltern und meines Bruders sackten erleichtert hinunter, ehe sich Muma zu uns drehte. Sie strahlte. „Wir sind fast da", flüsterte sie und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen.

Seit einer Woche waren wir tagsüber durch Wälder und kleine Dörfer gelaufen und hatten nachts versucht auf Bäumen zu schlafen, nur um es hierher zu schaffen. Wir gingen wachsam durch die grauen Gassen und vorbei an den Häusern, deren Fassaden langsam anfingen zu bröckeln, während ich mir einbildete, unseren jubelnden Gedanken lauschen zu können.

Als wir gerade am Ende der Straße ankamen, öffnete sich plötzlich die Tür eines Hauses, nur wenige Meter von uns entfernt. Ein schwarz bekleideter Mann starrte uns an, bevor er mit großen Schritten auf uns zulief und Papa Muma beschützend hinter sich schob. Ich schluckte nervös.

„Was wollt ihr hier?" Die Stimme des Fremden klirrte laut in meinen Ohren. Seine langen, schwarzen Haare hatte er hinten zu einem festen Dutt zusammengebunden, wohingegen seine Seiten abrasiert waren. Obschon er alleine war, hatte ich das Gefühl, es würde ihm leicht fallen, uns davon abzuhalten, unseren Weg fortzusetzen. Er kam breitbeinig vor uns zum Stehen und musterte uns herablassend. Mein Blick glitt seinen Arm hinunter, zu seiner Hand. Mein Atem stockte, als ich die Waffe erkannte, die seine Finger fest umschlossen.

Ich schaute zu Malek, der neben mir stand und sie ebenfalls anstarrte. Mein Vater drückte die Schultern durch, aber das schwache Zittern seiner Hände entging mir nicht. „Wir wollten nicht", fing er an und räusperte sich kurz, als seine Stimme brach. Aber bevor er weiterreden konnte, hörte ich ein leises Klicken und sah, wie der junge Mann die Waffe aus der Halterung zog und sie an die Stirn meines Vater drückte. „Ich habe nicht gefragt, was ihr hier nicht wollt, sondern, was ihr hier wollt." Seine Augen wanderten langsam zu den Händen von Papa, die nun stärker zitterten, und ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen.

Als ich vortreten wollte, zog mich Malek grob zurück. „Nicht", wisperte er, ließ den Mann dabei jedoch nicht aus den Augen. „Er wird nicht schießen."

Ich biss die Zähne aufeinander, blieb aber wo ich war. Der Blick des Typen begegnete meinem und mein Herz stolperte erschrocken, als seine Augenbrauen fragend in die Höhe wanderten.

„Wir wollen nur über die Grenze", lenkte mein Vater seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Mehr nicht." Die Grenzen waren so ziemlich das Einzige, was zwischen uns und besseren Zeiten lag. Außerdem waren wir viel zu weit gekommen, um jetzt noch kehrtzumachen.

„Was zum Teufel tust du da?", erklang eine laute Stimme hinter dem Mann, dessen Kiefer zuckte, ehe er genervt aufseufzte. Mein Blick glitt hinter ihn, zu dem anderen Jungen, der nicht viel älter als Malek sein konnte. Seine markanten Gesichtszüge waren angespannt, während seine dunklen Augen zu der Waffe zuckten, die immer noch auf den Kopf meines Vaters gerichtet war. Er überragte den Typen, der vor uns stand. Als der Neue bei uns ankam, legte er seine Hand um die Waffe und drückte sie bestimmend hinunter. „Was soll der Scheiß, Ahmed?", fuhr er den Mann an und entriss ihm die Waffe als wäre es nicht sein erstes Mal. Als Ahmed nicht antwortete, sondern ihn nur schweigend anstarrte, wandte er sich zu uns und steckte sich die Schusswache währenddessen in den hinteren Hosenbund.

„Hey", der junge Mann musterte meine Eltern flüchtig, „Wohin wollt ihr?" Ich konnte nicht sicher sagen, ob die Haare des Jungen tiefbraun oder schon schwarz waren. Er trug ein schlichtes, schwarzes T-Shirt, dass sich bei jedem seiner gleichmäßigen Atemzüge eng über seine Brust spannte, und eine dunkelgrüne Cargohose, die locker auf seinen Hüften lag. „Über die Grenze", wiederholte mein Vater.

„Habt ihr Papiere?"

Papa schüttelte den Kopf. Man hatte sie uns gestohlen, als wir noch auf weiten Feldern und harten Böden geschlafen hatten. Seitdem kletterten wir auf Bäume, um sicher zu gehen, dass so etwas nicht noch einmal vorkam.

„Das ist unpraktisch", entgegnete der Junge, während sein Blick zu Aadil glitt, der immer noch in Mumas Armen schlief. Je länger ich ihn musterte, desto weniger sah er aus wie ein Syrer. „Hinter der Grenze kontrollieren Polizisten alle Zivilisten, die sie überqueren", erklärte er ruhig und meine Augen wurden groß. „Gibt es eine Möglichkeit, an ihnen vorbei zu kommen?", fragte mein Vater, der dem fremden Mann anscheinend glaubte. Was blieb uns auch anderes übrig?

„Falsche Pässe", antwortete er nur und ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Wo sollten wir so schnell fünf gefälschte Pässe auftreiben? „Ich könnte euch welche besorgen", seine Augen wanderten kurz zu Malek. „Aber das dauert."

„Und wieso sollten wir Ihnen glauben, Sir?" Bei den Worten meines Vaters, legte sich ein Lächeln auf die Lippen des jungen Mannes. „Gute Frage." Er ließ die Hände lässig in die vorderen Hosentaschen gleiten. „Ich denke, weil ihr keine Wahl habt." Er zuckte mit den Schultern. „Also, geht ihr weiter oder kommt ihr mit rein?"

Ich sah, dass mein Vater schwer schluckte, ehe er zu meiner Mutter blickte. Sie nickte zögernd.

„Kommt mit", kam es daraufhin von dem Typen, dessen Namen ich immer noch nicht kannte. Er ging in die Richtung eines anderen Hauses und blieb vor der Eingangstür stehen, um sich noch einmal zu uns umzudrehen, während Ahmed ihm folgte. Ungeduldig winkte er uns zu sich und ich bemerkte erst jetzt die winzige Rose auf seinem Handrücken. Sie war schlicht und einfach, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie für ihn eine Bedeutung hatte.

Als wir daraufhin ebenfalls auf ihn zugingen, lächelte er sanft.

„Ich heiße übrigens Ryan."

Hektisch öffnete ich die Augen und blinzelte dem weichen Morgenlicht entgegen. Mit pochendem Herzen huschte mein Blick von Aadil, der immer noch in meinen Armen schlief, zu Malek, der auf dem dicken Ast unter mir döste, bevor meine Hände ängstlich nach meinem Rucksack tasteten. Alles war noch da.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt