11. Kapitel - Das Kind in meiner Heimat

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Die vereinzelten Gespräche hatten aufgehört, während wir durch die Straßen liefen. Langsam wurden die Schritte schwerer und mein Körper immer müder. Seit Stunden gingen wir durch die unberührte Dunkelheit, die nur von wenigen Straßenlaternen gelb erleuchtet wurde. Vor allem Malek setzte der Weg Kilometer für Kilometer zu. Tarek und Ryan stützten ihn von beiden Seiten, während er mit gesenktem Blick weiterhumpelte. Ich biss die Zähne fest aufeinander und schaute wieder nach vorne.

Sobald man die Gegend genau beobachtete, sah man, dass die Häuser immer seltener wurden und sich dafür längere Wiesenflächen zwischen den weitauseinanderliegenden Häusern erstreckten. Die meisten waren vertrocknet oder kurz davor. Als wir vor einer halben Stunde durch die verlasseneren Straßen Athens gegangen waren, in denen uns nur wenige Menschen entgegengekommen waren, hatten die Häuser dicht beieinander gelegen.

Ich musterte die Wohnungen der Menschen, die in diesem Viertel lebten, genauer. Ihr Zuhause war durch die Finanzkrise eng, dreckig und kaputt, aber die vergilbten Hauswände mit den vielen Graffitis hatten etwas Künstlerisches, was mich innehalten ließ.

Die Menschen hatten ihre Geschichten mit bunten Farben auf die grauen Wände niedergemalt. Sie hinterließen Spuren.

„Ich kann nicht mehr", keuchte Malek plötzlich und mein Blick schoss erschrocken zu den Dreien.

„Was tut weh?", fragte Tarek, bevor ich die Lippen öffnen konnte. Malek spannte seinen Kiefer an. „Alles tut weh."

Ich atmete ruhig ein, um meinen Puls wieder zu beruhigen. „Da vorne müsste bald ein kleiner Bauernhof kommen", flüsterte ein fremder Mann in unsere Richtung und ich starrte ihm in die Augen. „Woher weißt du das?", fragte ich neugierig, während sich ein müdes Lächeln auf sein Gesicht legte. „Ich beobachte, genau wie du, Kind", erwiderte er und meine Augenbrauen zuckten leicht, als er das Wort Kind auf türkisch aussprach, aber ich nickte.

Nach weiteren Kilometern wurde unsere Gruppe unruhiger, zumal weitere von uns lautlos abgebogen waren. Ich biss nervös auf meine Unterlippe. Fast wollte ich vorschlagen, einfach hier zu übernachten, als sich plötzlich nur noch weite, hochgewachsene Weiden vor meinen Augen erstreckten. Das Zirpen der Grillen durchschnitt die dunkle Stille und übertönte unsere müden Schritte. Sanft ließ ich die Gräser gegen die Innenfläche meiner linken Hand streichen. Eine angenehme Gänsehaut legte sich auf meine Arme und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich lauschte dem Rauschen des Windes im Weizenfeld neben uns und sah hinauf in den Himmel, der voller Sterne war. Voller leuchtender Sterne und blinkender Satelliten und Sternschnuppen, die an einem Mond vorbeisausten, der riesig war.

Manche mögen sich klein und unbedeutend fühlen angesichts so eines Himmels, ich aber fühlte mich lebendig, gewollt.

Als wäre die ganze Welt mein zu Hause. So, als wäre ich nicht allein.

„Da!" Der Ruf milderte meine Müdigkeit und ich sah in die weite Ferne, die ins Unendliche zu reichen schien. „Da!"

Ich schaute zu Tarek, der mich lächelnd beobachtete, bevor mein Blick zu Malek wanderte. Er versuchte mit aller Kraft seinen Kopf zu heben, um zu sehen, was dort vor uns lag, also glitten meine Augen ebenfalls wieder nach vorne.

Vereinzelte Lichter erhellten eine winzige Abzweigung und auf einem verrosteten Schild stand das Wort: Αγρόκτημα.

„Bauernhof. Da steht Bauernhof", rief eine Frau. „Fragen wir oder gehen wir einfach in den Stall?" Keiner traute sich auf Tareks Frage zu antworten, obwohl wir alle die Antwort kannten. Alles, was meine Eltern wollten, war, dass wir uns an die Regeln und die Gesetze der Länder hielten, um noch mehr Problemen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt standen wir kurz davor, wieder etwas zu tun, das uns in Gefahr bringen könnte. Wir würden erneut einen Fehler machen.

„Wir fragen", sagte ich deshalb und beobachtete die Reaktionen der anderen. „Nein." Malek hob den Kopf und sah mir in die Augen. Sein Blick war kraftlos und meine Gedanken an die Konsequenzen waren von der einen Sekunde auf die andere verschwunden. Ich presste die Lippen zusammen.

„Ich wäre eigentlich auch für's Fragen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir danach gar keine Möglichkeit mehr haben, zu schlafen, ist zu groß", flüsterte Ryan mir zu und ich sah auf. Schaute in seine nussbraunen Augen, in denen ich Verständnis erkannte.

Die Grenzen wurden gesetzt, ohne die Menschen, die zwischen ihnen lebten, zu fragen und ohne die Konsequenzen zu kennen. Wir brauchten einen sicheren Platz, also setzte ich einen Fuß vor den nächsten und ging gemeinsam mit den anderen den schmalen Pfad entlang.

Tatsächlich waren, abgesehen von den eingezäunten Wiesen, ein Stall und das Haus des Bauern zu sehen. Im Haus brannte kein Licht mehr, aber trotzdem blieb ich misstrauisch und schlich auf die linke Seite des Hauses, in Richtung Heuschuppen. Der typische Geruch von Pferden stieg mir in die Nase, bevor ein leises Schnauben durch die Nacht hallte. „Pferde? Echt jetzt?", fragte ein Junge hinter mir, aber ich ignorierte seine Worte und ging weiter. Das Knirschen der Kieselsteine unter meinen Schuhen war gedämpft, aber dennoch konnte man es sehr gut wahrnehmen. Wenn der Bauer schon vermutete, dass jemand auf seinem Hof rumschlich, war unsere Chance, unentdeckt zu bleiben, so gering wie im Leben keine Fehler zu machen. Mein Herz pochte wieder wild gegen meinen Brustkorb und ich hielt den Atem an, als der Mann vor mir die knarzende Holztür aufzog. Als sie ein Stück weit geöffnet war, traten wir ein. Das stille Wiehern der beiden Pferde erfüllte den Stall, als ich sah, wie sich ihre Ohren aufmerksam auf uns richteten.

Der Junge quetschte sich an mir vorbei. Bevor er auf die Pferde zugehen konnte, hielt ich warnend meinen Arm vor ihn. „So erschrecken wir sie", wisperte ich. „Ts, wenn ihr Frauen euch einfach mal zurückhalten würdet, würden wir viel schneller vorankommen." Überrascht ließ ich den Arm sinken und beobachtete ihn verwirrt dabei, wie er an den Pferden vorbeiging. Wir alle waren auf der Flucht, ob männlich oder weiblich, unser Ziel war das gleiche. Vor wenigen Wochen hätte ich mich in diesem Moment für mich selbst geschämt, aber jetzt machte es mich eher wütend. Schließlich waren wir alle auf der Flucht, ob männlich oder weiblich war bedeutungslos, aber wenn ich neu anfangen wollte, sollte ich die sein, die ich war und nicht das Kind, das ich in meiner Heimat zu sein dachte.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt