Die lauten Geräusche rissen Aadil aus dem Schlaf und er fing an zu weinen. Ich versuchte meinen kleinen Bruder zu beruhigen, indem ich ihn enger an meine Brust drückte und ihm mit zitternden Händen über den Kopf strich.
Erst nach mehreren Minuten verstummten die Schreie und die Klappe öffnete sich. Wieder tanzten die bekannten Schatten über die Wände und schienen auch Aadil zu besänftigen. „Ist alles okay bei euch?", fragte Ryan und mein kleiner Bruder hob neugierig den Kopf.
„Ja, alles gut", antwortete Tarek und ich ließ den Kopf erleichtert gegen die Wand sinken.
„Das waren Flüchtlinge. Callisto meint, dass hier häufig welche sind. Sie wollen nach England", erklärte Ryan und hielt inne. Es waren Flüchtlinge. Sie hatten so laut gerufen, weil sie wollten, dass wir sie mitnahmen. Ihnen hatte man nicht einfach angeboten, sie nach England zu schleusen.
Vielleicht würden sie niemals die Möglichkeit bekommen, neu anzufangen.
Wer bin ich, dass ich es so einfach habe?
„Warum habt ihr gebremst?" Bei Maleks Worten schaute ich zu ihm.
„Sie haben Äste und Steine auf die Straßen geworfen, deshalb mussten wir bremsen." Ryan schloss die Klappe wieder.
Bei jeder weiteren Unebenheit, über die wir fuhren, zuckte ich zusammen und auch die Anderen schienen seitdem wachsamer geworden zu sein.
Wir hockten hinter Weinkästen versteckt auf dem Boden, rochen den strengen Geruch von Urin und spürten die stechende Kälte der Nacht, die sich durch unsere Kleidung fraß.
Plötzlich hörte ich Tarek leise lachen. Verwirrt blickten Malek und ich zu ihm.
„Was tue ich hier eigentlich gerade?", fragte Tarek, aber wir antworteten ihm nicht. „Ich sitze mit Leuten, die ich nicht kenne, in einem Wagen, der uns nach England bringt und habe keinen Plan, was ich da soll."
Wieder lachte er, während mein Herz aufgeregt gegen meinen Brustkorb hämmerte und ich keine Worte fand, um diesen Moment in Gedanken zu fassen.
Und wenn der Seele die Worte fehlten, schickte sie Tränen.
Ich hörte wie die Klappe aufgerissen wurde und Ryan etwas sagte, aber ich verstand ihn nicht. Seine Worte waren weit entfernt, als ich plötzlich ihre Stimmen hörte. Ich konnte meine Eltern zwar nicht sehen, aber die Erinnerungen drängten sich in mein Bewusstsein und zwangen mich zum Fühlen.
„Hey, weinst du?"
Ich öffnete die Augen und starrte in das Gesicht meines Bruders, auf dessen Stirn sich besorgte Falten gebildet hatten. Zittrig holte ich Luft und versuchte die Nostalgie, die meine Sinne benebelte, zu ignorieren.
„Nein, alles gut", versuchte ich ihn zu beruhigen, aber auch durch die Dunkelheit konnte ich erkennen, dass Malek mir nicht glaubte. Er rückte näher zu mir und nahm Aadil und mich in die Arme. Langsam schloss ich erneut meine Augen. „Wir sind gleich da", wisperte Malek an meinem Ohr und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Ein schwaches Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich daran dachte, dass wir in wenigen Stunden ankommen würden.
„Wir sind durch!", schrie Callisto. Laut genug, damit es auch zu uns durchdrang. Wir hatten es durch den Eurotunnel geschafft. Erleichterung flutete meinen Körper und Malek seufzte beruhigt auf.
„Wie lange noch?", brüllte Tarek über den Lärm hinweg und Malek ließ mich los. Ich bemerkte, dass die Klappe immer noch geöffnet war. „Ungefähr eine Stunde noch, dann gehen wir alleine weiter", erklang Ryans Stimme und ich spürte, wie mein Herz überrascht stolperte. Eine Stunde war nicht viel.
Seit ungefähr drei Tagen hatten wir kein richtiges Tageslicht mehr gesehen. Seit drei Tagen hatten wir uns nicht mehr bewegen oder richtig unterhalten können, während der Lärm der Straßen zu unserem Einschlaflied geworden war.
***
Die Minuten, bis wir da waren, vergingen langsam, sodass genug Zeit blieb, in der ich mir ausmalen konnte, wie England aussah. Wie es sich anfühlen würde, durch ein fremdes Land zu laufen, das unsere neue Heimat war.
Das Licht, das durch die Klappe zu uns drang, flackerte, sodass ich wusste, dass Ryan da war, noch ehe er etwas sagte.
„Habt ihr eure Rucksäcke? Es muss schnell gehen. Wir haben noch fünf Minuten", erklang seine Stimme und ich spürte die Aufregung, die das Adrenalin durch meine Adern pumpte und mich unruhig werden ließ.
Tarek griff neben sich und reichte mir Maleks und meinen Rucksack. „Danke."
Es dauerte nicht lange, bis wir spürten, wie Callisto um eine Ecke bog und der Wagen kurzdarauf zum Stehen kam.
„Los", hörte ich ihn rufen, ehe sie aus dem Wagen stiegen und mit eiligen Schritten um den Wagen liefen, um uns die Hintertür aufzumachen. Es brauchte einige Minuten, bis sie genug Weinkästen zur Seite geschoben hatten, damit wir rauskommen konnten.
Malek, Aadil und ich kletterten zuerst aus dem Wagen, ehe uns auch Tarek folgte. Es war früher Morgen, aber die ersten Sonnenstrahlen zogen sich bereits wie Fingerspitzen über den dunklen Horizont.
Ein friedliches Rauschen füllte die Stille, als der Wind sanft über die Gräser in unserer Nähe strich. Für einen Moment blickte ich hinauf in den Himmel und schloss die Augen. Die frische Luft und der angenehme Geruch nach gemähtem Gras stimmten mich ruhiger und ich atmete tiefer ein.
„Ab hier trennen sich unsere Wege", hörte ich Callisto sagen und drehte mich in seine Richtung. Tiefe Augenringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, aber sein freundliches Lächeln war immer noch so echt wie am Anfang.
„Danke, Callisto." Ich lächelte und stützte Malek von der Seite, als sein Blick meinen fand. „Gerne." Er musterte uns noch für einen kurzen Moment, bevor er sich an Ryan wandte, der uns unsere Rucksäcke abgenommen hatte und sie sich nun über die Schulter warf. „Wir hören voneinander?"
Ryan nickte leicht, während sich ein Lächeln auf seine Lippen legte. „Danke."
Callisto hab zum Abschied die Hand und lief zurück zur Fahrertür, um den Motor zu starten und weiterzufahren.
Auch diesmal hatte keiner von uns auf Wiedersehen gesagt. Wenn wir uns verabschiedeten, gestanden wir uns ein, dass hier etwas zu Ende ging und das war schwieriger, als einfach weiterzumachen.
„Und was jetzt?", fragte Tarek und runzelte die Stirn. Ich mochte es, wenn er viele Fragen stellte. Nicht, weil ich die Antwort wissen wollte, viel mehr, weil es mich daran erinnerte, dass ich nicht die Einzige war, die mehr Fragen als Antworten hatte.
Ryan sah zu ihm und mir fiel auf, dass auch er müde aussah. Vermutlich war die Fahrt für uns alle kräftezehrend gewesen, aber uns blieb nichts anderes übrig, als weiterzulaufen. Er zog sich die schwarze Kapuze über den Kopf und nickte in die Richtung der Straße. „Jetzt laufen wir."
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
JugendliteraturDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...