Vorfreude

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Abigail

Und der Minutenzeiger rückte langsam Minute für Minute weiter. Sehr langsam. Zu langsam, für meinen Geschmack.

Ich checkte noch mal mein iPhone, vielleicht war ja einer von den Vollidioten online. Fehlanzeige. Stöhnend lehnte ich mich zurück. Es war einfach unmöglich, manchmal hatte ich das Gefühl, unter sehr beschränkten Leuten zu leben. Um es nett auszudrücken. Was hatten wir noch mal für ein Fach gerade?

"... und dann die Wurzel aus dem Produkt ziehen. Und jetzt zeige ich euch..."

Okay, das hätte sich auch geklärt. Mr. Walters stand vorne am Pult und erklärte in seiner einschläfernden Art irgendein mathematisches Problem, das kein eigentlich gar kein Problem war. Das einzige Problem war er, der sich in ermüdender Kontinuität diese sogenannten Probleme ausdachte, deren Lösung ich in Sekundenschnelle herausgefunden hatte. Die millionenfachen Wiederholungen hatte ich der fehlenden Intelligenz meiner Klassenkameradinnen zu verdanken, aber ich wollte mich ja nicht beschweren. So konnte ich den Unterricht ohne schlechtes Gewissen mit sinnvolleren Dingen füllen: Nähe lackieren, Nachrichten schreiben und Partys organisieren.

"Megan!", zischte ich ihr zu.

"Was, man?", fragte sie gelangweilt und spielte mit ihrem Stift.

"Hör mal, haben Ben oder John dir irgendetrwas gesagt? Mir haben die Pfosten nicht mal die Uhrzeit gesagt", entrüstete ich mich.

"Ach Abby, beruhige dich. Ich habe alles paletti." Schweigen.

"Super", kommentierte ich ihre Sturheit mit ironischem Unterton. Mr. Walters warf mir einen bösen Blick zu, was mich überraschte, da in seinem Unterricht die Schüler eigentlich nur Dekoration waren. Er hörte sich am allerliebsten nun mal selbst reden.

"Ja. Ich weiß." Keine weitere Reaktion.

Ich wartete darauf, dass Megan mir endlich die Informationen gab, aber sie hüllte sich in eisernes Schweigen. Sie war einfach unmöglich.

"Und, Eure sehr verehrte Majestät Megana, wäret Ihr nun so gnädig, Euer Wissen mit mir zu teilen?", versuchte ich es ein letztes Mal. 

"Leck mich, Abby. Und sei still. Ich genieße es gerade, dass du abhängig von mir bist."

Ich hatte plötzlich das mich innerlich zerreißende, verwerfliche Gefühl, ihr die Zunge herauszustrecken, doch ich hielt mich unter Kontrolle. Selbstbeherrschung war so etwas wie mein zweiter Vorname. Verdammt, was sie manchmal für ein Arschloch sein konnte. Und sowas nannte sich 'Freundin'. Ich wusste schon immer, dass sie diese gewisse sadistische Ader hatte.

Als es endlich halb drei war und Mr. Walters sich nicht einmal von der Schulglocke unterbrechen ließ, hatte ich das starke Bedürfnis, wie ein kleiner Fünftklässler zum Bus zu rennen, aber das ließ weder Alter und noch Status zu. Es hatte eben auch Nachteile, so beliebt zu sein wie meine Wenigkeit. Doch um ehrlich zu sein überwogen die Vorteile. Vorteile mit tollen Haaren, schönen Augen und vor allem stinkreichen Eltern. Vorteile, die sich einem in meinem Fall reihenweise an den Hals warfen.

Ich riss Megan von ihrem Stuhl, ging hoch erhobenen Hauptes aus dem Klassenzimmer und zog sie mit mir. Sie würde sonst wieder eine Ewigkeit brauchen, bis sie ihre ganzen Stifte und Bücher in die Tasche gepackt hatte.

"Kannst du nicht eine Minute warten?", knurrte sie.

"Auf dich etwa? Träum weiter." Ich sah erste Mal heute bewusst an ihr herunter und wunderte mich zum ungefähr tausendsten Mal, wie sehr die falsche Kleidung einen schönen Menschen doch entstellen konnte. Wer zum Teufel trug denn bitte noch Schlaghosen? Ich meine, vor 50 Jahren waren die vielleicht mal angesagt, aber heute?

"Weißt du, ich überlege gerade ob ich nicht komplett alleine zum Bus gehe. So wie du wieder aussiehst, könnte man meinen, ich hätte meinen guten Geschmack verloren." Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. So langsam verlor ich wirklich die Hoffnung, in ihr zumindest einen Funken Geschmack zu entfachen. Es musste schließlich nicht direkt ein solches Feuer sein, wie das, das in mir brannte, aber ein kleines bisschen war doch nicht zu viel verlangt.

Sie warf mir nur einen sarkastischen Blick zu und ging dann weiter.

Dieses Mädchen war schrecklich. Und doch konnte ich niemandem so sehr vertrauen wie ihr. Und das eben auch nur, weil sie das komplette Gegenteil von mir war. Sie war das Schwarz zu meinem Weiß, der Schlager zu meinem Heavy Metal. So verdammt eingebildet das klingen mochte, sie war die einzige Person, die mir ihre Meinung ungeschönt ins Gesicht sagen und das nur, weil sie nicht auf all das neidisch war, was ich war. All das, was ich hatte oder auch haben wollte, war für sie uninteressant, sodass wir prima miteinander auskamen. Beim Anblick meiner Hermès-Taschenwäre jedes Mädchen ohnmächtig geworden und nur Megan schaffte es, unabsichtlich eine der Taschen in den Müllkorb zu werfen, "weil der Reißverschluss doch kaputt ist". Also stöckelte ich ihr in meinen neuen schwarz-weißen Pumps hinterher, so wie immer. Das auch noch elegant hinzubekommen und ohne, dass gewisse Personen unter meinen orangen Minirock glotzen konnten, grenzte an ein Wunder.

Aber darin hatte ich Übung. Genug, um so etwas nebenbei zu machen, während ich mich um wichtigere Dinge kümmerte. Dinge, die meist muskulös, gutaussehend und charmant waren.

Das war eben meine Welt.

Eine Welt, die nur diese verstehen konnten, die in ihr und mit ihr lebten. Eine Welt, von der ich glaubte, dass sie mich ewig gefangen halten würde und ich in ihr sicher wäre. Eine Welt, von der ich nie erwartet hätte, dass sie je auseinander brechen würde.

Die fast perfekte Welt von Abigail Morgan Sue Freeman, der Milliardärstocher des ungekrönten Königs der Kosmetikbranche Stanley Freeman und der Restaurantbesitzerin Elisabeth Freeman. Und die meiner Katze Saphira, aber das war in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erwähnenswert.

Avenging Angel - Schönheitsschlaf für Anfänger | #DreamAward2018 #SpringAwards18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt