Ressourcen

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Abigail

Ich war von Natur aus nicht besonders sensibel, Taktgefühl kannte ich nicht und zart besaitet war ich schon gar nicht. Gerade deswegen war es mir seitdem ich mich erinnern konnte ein Anliegen, meine Wahrnehmung für die menschliche Körpersprache weiter auszubauen. Die Restaurants meiner Mutter hatten mir immer den perfekten Platz für meine unauffälligen Beobachtungen geboten, durch die ich mittlerweile feinste äußerliche Anzeichen für Stimmungen und emotionale Regungen erkennen und deuten konnte. Die Aneignung dieser Fähigkeiten war mühsam gewesen, wenn auch mein außerordentlich gutes Gedächtnis und das reichhaltige Informationsmaterial, an das ich mit dem Namen meines Vaters kam, ihr Übriges dazutaten.

Gerade deshalb jedoch beschäftigte mich etwas an dem denkwürdigen Abend im Impossible besonders. Ich sah ihn noch vor mir, den sogenannten Dave Shyle, wie er in seinen wallenden, schwarzen Mantel gehüllt aus dem Hinterausgang des Clubs in die Nacht stürmte. Er hatte seinen Kopf immer wieder von der einen zur anderen Seite gewandt, hatte kleine, hoch frequentierte Schritte gesetzt und einen äußerst gehetzten Gesichtsausdruck aufgelegt, wie jemand, der zu flüchten versucht. Wer weiß, vielleicht war er auch nur in eine Prügelei verwickelt gewesen und wollte unauffällig verschwinden. Doch ich hatte dieses unbestimmte Gefühl, das mich dazu drängte, diesem 'Vorfall' weiter nachzugehen.

Meine Gedanken glitten zu dem dunklen Stofffetzen, der sich sicher verwahrt in meinem Schreibtisch in einer Tüte befand. Wie die tote Frau ihn festgekrallt hatte. Man hatte ihre Verzweiflung allein in ihrem verkrampften Griff erkennen können, der schreckliche Ausdruck in ihrem Gesicht war zur Bestimmung ihrer Gefühlslage zum Todeszeitpunkt nicht mehr nötig gewesen. Dennoch empfand ich kein Mitleid mit ihr. Warum auch? Sie war tot und irgendwann hätte sie sowieso sterben müssen. Ich kannte sie nicht, also warum sollte ich um sie trauern?

Menschen trauern so gerne. Jeden Anlass nutzen sie, um ihr Beileid kundzutun und sich in Mitleid und Empathie suhlen zu können. Der Grund dafür ist nicht wirklich, dass sie traurig sind, oh nein. Sie trauern um jemand anderen, weil sie selbst sich dadurch besser fühlen. Sie sind froh, dass es sie nicht getroffen hat und sie von solch schrecklichem Unglück verschont geblieben sind. Selbst wenn dieser äußerst seltsame, aber zutiefst menschliche Trauer-Freude-Prozess unterbewusst abläuft, so existiert er dennoch.

Diesen Prozess zu durchbrechen war nicht einfach, denn das Unterbewusstsein hatte sich schließlich noch nie gerne in seine Angelegenheiten reinreden lassen, doch ich versuchte es. Immer und immer wieder. Ich wollte zumindest zu mir selbst so ehrlich sein wie möglich und dazu gehörte auch, sich von diesen heuchlerischen Gefühlen freizumachen. Das gelang mir zwar nicht vollständig, aber durch meine ganz eigene Interpretation der Scheiß-egal-Einstellung hatte ich schon den ein oder anderen Erfolg verbuchen können.

Nur leider übte dieser Mord trotzdem eine äußerst starke Anziehungskraft auf mich aus und wusste nicht, woran das lag. Obwohl ich vorzugsweise meinem Verstand und nicht meinen Gefühlen traute, beschloss ich, mir klammheimlich selbst ein Auto aus der Garage zu holen und ein bisschen nachzuforschen. Wenn Megan diesen Dave kannte, konnte es mir nicht schwer fallen, ihn ausfindig zu machen. Mit einem appetitlichen Knochen konnte man immerhin auch den sprichwörtlichen Hund hinter dem Ofen hervorlocken.

Bei all diesen Gedanken versuchte ich den größten, den fiesesten, den, der die ganze Zeit vor meinem inneren Auge Polka tanzte, zu verdrängen: den Gedanken an meinen Dad. Zu hart hatten mich seine Worte getroffen, zu sehr hatte selbst mich sein irrer Blick geängstigt. Ich wusste, ich musste etwas gegen ihn tun, doch ich war unfähig. Mom musste warten, zumindest für den Augenblick.

Nachdenklich zog ich mein Handy aus meiner Tasche und tippte die einzige Nummer, die ich auswendig kannte, in das Wählfeld.

„Megan? Hallo?", meldete ich mich bei ihr. Ich hörte aus dem Lautsprecher meines iPhones nur Prusten und Keuchen. „Sag mal, was ist denn bei dir los? Dürfte ich bitte den Namen des Unglücklichen erfahren, mit dem du dich gerade vergnügst?"

„Abby, du Sau, ich lieg mit niemandem im Bett. Ich bin einfach nur aus der Puste, wie das normale Menschen nun mal hin und wieder sind. Was willst du schon wieder?", erwiderte sie genervt.

„Abgesehen davon, dass ich alle dreckigen Details von deiner hoffentlich erfolgreichen Nacht mit Johnny-Boy haben will, wäre es sehr nett, wenn du mir eben die Adresse von diesem Dave Shyle geben könntest." Jetzt, wo ich seinen Namen das erste Mal bewusst aussprach, schien eine Glocke in meinen Gehirn zu klingen beginnen. Aber egal wie tief ich in meinem Gedächtnis herumkramte, ich konnte die Herkunft dieses zugegebenermaßen sehr leisen Geräuschs nicht bestimmen.

„Die Adresse von Dave?", fragte sie mit deutlichem Misstrauen in der Stimme. „Warum das denn?"

„Vielleicht finde ich ihn ja interessant. Wer weiß das schon?"

"Dir ist sicherlich bewusst, dass Dave keiner deiner üblichen Söhne neureicher Unternehmer ist, die sich dir nur an den Hals werfen, weil sie Erben für ihr Reichtum brauchen? Er ist aus einfachen Verhältnissen. Also absolut nicht dein Typ", konterte sie süffisant.

"Mir ist die Oberflächlichkeit der meisten meiner Eroberungen durchaus bewusst. Das ist aber leider unumgänglich, wenn man einen gewissen Verbrauch der Ressource 'Mann' hat. Ich würde ja gerne mit dir darüber diskutieren, doch tragischerweise bist du nicht ganz so bewandert in dieser Thematik wie meine Wenigkeit. Und jetzt, meine Liebe, würde ich gerne einfach mal ganz ohne Beleidigungen oder Umwege das bekommen, was ich von dir haben möchte." Ich verdrehte die Augen, was sie leider durch das Handy nicht sehen konnte. "Das kann doch nicht so schwer sein."

„Reg dich nur auf. Wenn du von deiner ach so tollen Ressource 'Mann' doch sowieso immer alles bekommst, was du willst, dann muss ich diese Tradition ja nicht weiterführen." Es entstand eine kurze Pause, in der sich jede von uns weigerte, zuerst nachzugeben. Schließlich hörte ich Megan genervt stöhnen. "Nun gut, ich weiß es selbst nicht mehr so genau, aber ich war mal da. Er wohnt in so einer heruntergekommenen Studentenbude. Eines dieser Häuser, die mal weiß waren und jetzt nur noch hässlich sind. Ganz in der Nähe der Hampton Street. Frag dich einfach durch und lass mich jetzt in Ruhe." Endlich. Ihre Leitung war heute aber auch mal wieder sehr lang.

„Dankschön Miss Ich-bin-auch-noch-mit-50-Jungfrau", zwitscherte ich, „ich rufe wegen John später nochmal an, darauf kannst du dich verlassen." Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, legte ich auf und setzte mich in meinen kanariengelben Mini Cooper mit dem Schachbrettdach. Wenn ich mich nicht fahren lassen konnte, war er mein absolutes Lieblingsauto.

Eine gute halbe Stunde später sah ich die dreckige Fassade des heruntergekommen Reihenhauses mit der Nummer 132 vor mir, das genau auf die Beschreibung des Mannes passte, den ich in meiner Not gefragt hatte. Die Fensterrahmen waren genauso weiß verwaschen wie die Farbe der Wände, was den billigen Kunststoff noch billiger aussehen ließ. Die Tür war ursprünglich mit einer Lautsprechanlage versehen gewesen, doch irgendjemand, vermutlich ein betrunkener Bewohner oder wütender Ex-Freund, hatte sie mülltonnentauglich geschlagen.

Hinter den blinden Fenstern konnte man nur funzeliges Licht und vereinzelte Schatten erkennen. Aus einigen von ihnen stieg verdächtig süß riechender Rauch auf, der mich an so manche mit Megans Freunden durchfeierte Nacht erinnerte. Auch der winzig kleine Vorgarten sah alles andere als gepflegt aus und hatte mit Sicherheit seit mehreren Monaten keinen Rasenmäher von unten gesehen. Außerdem lagen überall leere Falschen herum, von denen die meisten einmal Whisky, Korn oder anderes Hochprozentiges enthalten hatten.

Nach dem Zustand dieser Behausung zu urteilen musste man fast Angst haben, hinein zu gehen. Der Putz an den Wänden blätterte herunter und durch eines der Fenster im Erdgeschoss zog sich ein großer, mittlerweile weit aufklaffender Riss.

Während ich mir derart unbedeutende Gedanken über verwaschene weiße Farbtöne und die wirklich unanständige Länge des Rasens machte, konnte ich nicht ahnen, dass meine Entscheidung, ob ich diese Bruchbude betreten wollte oder nicht, starke Auswirkungen auf meine Zukunft hatte. Mein Schicksal war an einem Punkt, an dem es mir das Ruder in die Hand gab. Und mich dann gnadenlos in das schwerste Unwetter meines Lebens hineinrennen ließ. Wenn ich damals gewusst hätte, was genau ich gerade im Begriff war zu tun, hätte ich kehrt gemacht. Auf dem Absatz. Wäre ins Auto gestiegen und hätte nie wieder einen Gedanken an dieses widerwärtige Haus verschwendet.

Doch wie? Mein Schicksal gab mir keinen Wink mit dem Zaunpfahl, es ließ mich viel lieber in mein Verderben laufen und setzte sich mit Popcorn und eisgekühlter Cola daneben, um meinen Untergang zu feiern.

Was Skrupellosigkeit anging war mir das Schicksal dann doch noch eine Nasenlänge voraus.

Avenging Angel - Schönheitsschlaf für Anfänger | #DreamAward2018 #SpringAwards18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt