Prolog

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Das kleine Mädchen schrie wie verrückt, als es auf der Fahrt zu seinem neuen Zuhause in dem teuren Mercedes auf dem gepolsterten Rücksitz in mehrere Decken eingewickelt saß.

Es verstand nicht, warum es plötzlich weg musste - weg von allem was es kannte, herausgerissen aus seiner bekannten Umgebung. Nicht einmal sein kleines Häschen durfte es mitnehmen. Dabei hätte es das abgenutzte, braune Plüschtier doch gerade jetzt so nötig gebraucht.

Die junge Frau, die vorne auf dem Beifahrersitz saß, kuschelte sich weiter in ihren Pelzmantel und warf ihrem Mann trotz allem einen glücklichen Blick zu.

"Endlich."

Der Mann schüttelte nur verständnislos den Kopf, aber auch auf seinem Gesicht lag ein seliges Lächeln. Beide schwiegen eine Zeit lang und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Plötzlich setzte die Frau jedoch ein ernstes Gesicht auf und holte tief Luft.

"Du weißt, wir haben Steve zu Hause gelassen, damit er nicht davon erfährt. Niemand darf davon erfahren. Ihre Vergangenheit bleibt tabu. Am wichtigsten ist, dass sie selbst nicht davon erfährt. Es muss unser Geheimnis bleiben. Für immer." Sie sah ihn eindringlich an und er quittierte das Ganze mit einem zustimmenden Brummen.

Beide verfielen wieder in ein eisernes Schweigen, während das kleine Mädchen sich mit seinen Patschehändchen die Tränen aus den Augen rieb. Es merkte, dass die zwei großen Menschen ihm nichts Böses wollten, aber das alles war so verwirrend. Dem kleinen Mädchen kam die Welt so übermächtig und riesig vor, dass es sich am liebsten wieder mit seinem kleinen Plüschhasen in sein Bettchen gekuschelt hätte. Es wäre gerne wieder in demkahlen, grauen Zimmer, das es bereits seit einiger Zeit bewohnte, und das es trotz seiner Trostlosigkeit als Zuhause empfand. Die Aussicht auf den alles andere als üppigen Garten, die anderen Kinder und nicht zuletzt Tante Dolly würde sie vermissen.

Es schluchzte noch einmal leise, dann vergrub es sein zierliches Gesicht in den weichen Decken und versuchte alles auszublenden und an schönere Dinge zu denken.

Zu Hause angekommen wurde das kleine Mädchen todmüde in sein großes, neues Bett getragen und mit einer kalten, neuen Decke zugedeckt. Die junge Frau betrachtete liebevoll sein Gesicht. Es hatte wunderschöne braune Augen, die ihm von einer Sekunde auf die andere zufielen, und kastanienbraunes Haar. Ihr Mann trat zu ihr und streichelte dem Mädchen sanft über den Kopf. Die Frau gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und zog die Decke noch höher.

"Schlaf schön, mein Schatz. Du gehörst jetzt zu mir", flüsterte sie lächelnd.

Sie bemerkte den herrischen, aber vor allem überraschend gleichgültigen Blick ihres Mannes nicht. Und selbst wenn sie ihn bemerkt hätte, sie hätte ihn niemals drauf angesprochen und damit in Bedrängnis gebracht. Und so war es nun mal immer und überall: Niemand traute sich, ihn mit irgendetwas zu belästigen, nicht einmal, warum er und seine Frau plötzlich ein kleines Mädchen hatte. Und das, obwohl es ganz und gar kein Baby mehr war. Auch die engsten Bediensteten fragten nicht nach, sie spürten, dass etwas in der Luft lag.

Doch hätten die neuen Eltern des kleinen Mädchens damals gewusst, was durch ihre Geheimniskrämerei einmal geschehen würde, hätten sie es ihm sofort gesagt. Aber niemand konnte wissen, dass diese Lügen das kleine Mädchen unglücklich und unsicher machen würden, und nicht das Gegenteil bewirkten.

Kein Plan ist perfekt, jeder hat seine Fehler und Schwachstellen, irgendwo gibt es immer eine Lücke. Und das ist nun mal meist die Wahrheit. Die Wahrheit, die der Lüge, der Illusion und dem Schweigen in die Quere kommt. Die Wahrheit, die immer wieder ihre Bahnen durch den trägen, gemächlich fließenden Fluss der Lügen zieht und ihn in Aufruhr versetzt. Sie lenkt ihn aus seinem gewohnten Flussbett heraus und lässt das zum Vorschein kommen, was lange im Verborgenen geblieben war.

Aber die Wahrheit wird leider nicht oft genug gesagt - sie wird versteckt gehalten, im hintersten Eckchen des Gehirns, sie wird ignoriert und von einer Lüge ersetzt, bis diese irgendwann so fest verankert ist, dass die Wahrheit kaum noch eine Chance hat -  aber irgendwann kommt sie zwangsläufig ans Licht. Und das entweder eiskalt und ohne Gewissen oder reuevoll mit Tränen in den Augen.

Avenging Angel - Schönheitsschlaf für Anfänger | #DreamAward2018 #SpringAwards18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt