Gefühle

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Abigail

Ich schlug mit der Hand auf den Wecker, der mich wie jeden Morgen zu einer gottlosen Zeit aus meinem wohlverdienten Schönheitsschlaf riss. Manchmal blieb ich einfach liegen und kam später in die Schule. Mir graute nicht vor solchen Auftritten, denn es gab niemanden, der mich deswegen auslachen würde. Meiner Meinung nach sollte man entweder pünktlich sein oder toll aussehen, und pünktlich sein konnte schließlich jeder. Das einzig Nervige daran war, dass die Lehrer ein solches Verhalten nicht lange tolerierten und irgendwann meine Eltern terrorisierten, die ihren Frust wiederum auf mich abluden.

An diesem Morgen jedoch stand ich auf, machte mich fertig und setzte mich an den gedeckten Frühstückstisch. Ich nahm mir eine Mango vom Obstteller und schaute bedrückt auf die leeren Stühle um den Tisch. Ich schluckte meine Enttäuschung so gut es ging herunter, doch ihr bitterer  Nachgeschmack ließ sich nicht so leicht auslöschen.

Nicht dass es mich kümmerte. Seien wir mal ehrlich, wer brauchte schon Eltern wie meine? Der eine so gestört, dass er der anderen Medikamente gab, die sie gestört machten.

Total geisteskrank. In unserer kleinen Freakshow kam ich mir oft genug wie die einzige Person vor, die mit einem einigermaßen gesunden Verstand gesegnet war. Wenn ich doch nur den Mut oder die Möglichkeiten hätte, den anderen Darstellern dieser Show zu helfen oder die komplett wahnsinnigen einfach rauszuwerfen. Aber leider war der gestörteste von allen der Geschäftsführer, und der ließ sich nicht gerne reinreden.

Miauend kam Saphira in die Küche, strich schnurrend um meine Beine und riss mich aus meinen Grübeleien. So dunkle Gedanken so früh am Morgen, das beschleunigte sicherlich die Faltenbildung.

„Ich weiß sehr wohl, dass du dein Fressen schon hattest, meine Liebe." Sie sah mich aus klugen Augen an und beendete ihr Theater. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie verstünde mich tatsächlich.

Wie leicht das Leben als Katze sein musste. Man konnte die Dinge so hinnehmen wie sie waren, und stellte sich nicht jedes Mal die auf's Neue die Fragen wie, warum oder woher. Man dachte nicht weiter als bis zum nächsten Maulwurfshügel oder Mauseloch und die einzige Sorge wäre die, ob die Sonne warm genug schien, damit sie das Decken im Nest aufwärmen würde.

Ich hatte meine Mango verdrückt und schaute mich auf dem ausladenden Eichentisch um. Nichts war darauf, was meinen Appetit noch weiter anregte.

Seufzend stand ich auf und ging durch die hohe Tür auf den Flur hinaus, um Steve schon mal auf die Fahrt zur Schule zu wecken. Man ließ mich ja nicht mehr Auto fahren, nach dem unglücklichen Vorfall neulich.

Ich erinnerte mich seltsamerweise noch ziemlich genau. Seltsamerweise, weil Megan und ich um neun Uhr abends bereits die zweite Flasche Tequila geköpft hatten und darüber lachen mussten, dass ich Zac Efron auf der letzten Spendengala dabei beobachtet hatte, wie er besoffen seine größten Hits aus Highschool Musical zum Besten gegeben hatte.

Megan war daraufhin in bester Vanessa-Hudgens-Manier auf meine äußerst authentische Wiedergabe eingegangen und wir hatten sämtliche Lieder auf den vorderen Sitzen meines damaligen Lieblingsautos performt - einem wunderschönen Mercedes SL. Was mich geritten hatte, mein Schätzchen in einem solchen Zustand aus der Garage zu holen, konnte ich im Nachhinein nicht mehr sagen, aber zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass keiner meiner Erziehungsberechtigten zu Hause war, um mich von dieser Dummheit abzuhalten.

Wir sangen und tanzten so gut es auf unseren Sitzplätzen eben ging, bis wir zu unserer Enttäuschung an der Einfahrt einer fulminanten Stadtvilla von John angehalten wurden. Heute war ich natürlich dankbar dafür, aber zum damaligen Zeitpunkt wehrte ich mich mit Zähnen und Krallen, als er mich auf den Rücksitz verfrachtete, um uns nach Hause zu fahren.

„Wenn ihr nicht meine besten Freundinnen wäret, hätte ich euch einfach weiterfahren lassen. Ich dachte ja immer, dass ihr so beliebt seid, weil ihr gut ausseht, aber offensichtlich habt ihr einfach nur ein Schweineglück. Kein normaler Mensch hätte eine Fahrt, die weiter als bis zur Grundstücksausfahrt geht, mit einem so hohen Pegel überlebt", hatte er in einem für ihn untypisch ernsten Ton gebrummt. Ich hatte angefangen zu lachen, als ich sah, dass Megan angesichts seiner Worte rot anlaufen war. Offensichtlich war nur zu ihr durchgedrungen, dass er uns als gutaussehend bezeichnet hatte.

Genau das war auch der Augenblick gewesen, in dem die ganze Sache ein wenig aus dem Ruder gelaufen war. Denn Johns indirektes Kompliment erinnerte mich an den Frust, den ich wegen des von Ben ausgehenden Desinteresses an meiner Person verspürte, und die für mich naheliegendste Reaktion war, mein Oberteil und meinen BH auszuziehen, die Dachluke zu öffnen und mich, halbnackt wie ich war, in die Öffnung zu stellen. Die Nachtluft hatte sich wunderbar kühl um meinen Körper geschmiegt.

„Wir sind die Königinnen von New York", hatte ich ausgelassen geschrien und Megan hatte ein Loblied auf unsere Freundschaft zur Melodie von Born in the U.S.A. angestimmt. Kurz hatten sogar Johns Zähne in der Dunkelheit aufgeblitzt, der sich wie so oft sein Lachen nicht verkneifen konnte.

Im nächsten Moment jedoch scherte vor uns plötzlich ein Polizeiauto ein und wies John an, ihm bis zur nächsten Haltemöglichkeit zu folgen. Ich hatte mich immer noch sehr dürftig bekleidet wieder auf den Rücksitz fallen lassen und mich mit Megan über diesen doch ziemlich ungünstigen Zufall totzulachen. Als der Polizist uns in sein Röhrchen pusten ließ, taten meine Buchmuskeln so sehr weh, dass ich kaum Luft holen konnte.

Dieser Schmerz war nur von meinem Brummschädel am nächsten Morgen übertroffen worden.

Die Polizei hatte sich am gleichen Tag noch bei meinen Eltern gemeldet, was einige unangenehme Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Natürlich hatte ich versucht, ihnen zu erklären, dass im Prinzip ja nicht einmal etwas passiert war, ich hatte schließlich nur die "öffentliche Ordnung gestört", um es mit den Worten des netten Beamten zu sagen. Nur leider hatte allein die Tatsache, dass ich überhaupt Alkohol intus gehabt hatte, eine verheerende Wirkung auf den Gemütszustand meiner Eltern. Und weil ein einfaches Fahrverbot meinem liebenden Vater nicht reichte, hatte er kurzerhand meinen Wagen verkauft, was mit Abstand das Schlimmste an der ganzen Sache gewesen war.

Als hätten sie nicht gewusst, dass ich mich jedes Wochenende nur allzu gerne in das wunderbare durch den Alkohol ausgelöste Vergessen gleiten ließ. Es hatte sie nur so lange nicht interessiert, wie es sie in ihrem Leben nicht beeinträchtigt hatte. Aber kaum standen sie vor dem Polizeipräsidenten, der sich wie selbstverständlich meiner angenommen hatte, zogen sie ihre Schwänze ein wie verängstigte kleine Wadenbeißer. Zu Hause hatte Mom geweint und mich gefragt, ob ich ein ernsthaftes Alkoholproblem hätte, während Dad mich als Stadthure beleidigt hatte, die augenscheinlich ihre ganze Familie beschämen wollte. Dabei waren nicht einmal Fotos von der Aktion aufgetaucht.

Ich verdrehte die Augen und versuchte, ich zu beruhigen. Für andere Menschen mochten Eltern Sicherheit bedeuten, ein sicherer Hafen, ein Fels in der Brandung. Für mich waren die meiste Zeit über ein Hindernis auf meinem Weg - wohin eigentlich? Auf meinem Weg zum Glück? Zur Zufriedenheit? Nein, eigentlich waren sie die Hindernisse auf meinem Weg ins Leben. So gern ich meine Mutter hatte, so war mir doch bewusst, dass sie mich in meinem Dasein einschränkte. Doch ich liebte sie nun mal, also kam es für mich nicht in Frage, sie einfach aufzugeben.

Ich seufzte laut. Verdammt, ich durfte mich einfach nicht so sehr hineinsteigern. Ich musste Ruhe bewahren. Abkühlen. Unnahbar bleiben. Gefühle verdrängen, zumindest für den Moment.

Nur so ließ es sich hier aushalten. Denn Gefühle brachten nichts als Probleme.

Schade bloß, dass ich bei diesem Gedanken genau drei Gesichter vor Augen hatte. Zack, der zwar Vergangenheit war, mir aber nun mal die schrecklichste aller Seiten der Gefühle gezeigt hatte. Ben, für den ich so gerne etwas empfinden würde, aber offensichtlich nicht konnte. Und komischerweise Dave, der in mir einfach nur sehr große Verwirrung auslöste.

Avenging Angel - Schönheitsschlaf für Anfänger | #DreamAward2018 #SpringAwards18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt