Prolog Teil 1
Dicke Flocken rieselten an meinem Fenster vorbei. Draußen hatte sich eine weiße Puderschicht auf dem Rasen niedergelassen und das verlassene Baumhaus war ein einziger kahler Fleck. Ich konnte die Stimmen der Kinder hören, die aufgeregt im Park Schlitten fuhren. Es war der erste Schnee dieses Jahr und alle kosteten ihn aus. Nur ich nicht. Ich saß auf dem weißen, flauschigen Teppich meines Zimmers und sortierte einen Ordner nach dem anderen. Bestimmt saß ich jetzt schon zwei Stunden hier. Monotone Bewegungen. Eine Seite nach der anderen lochen, anschauen, einheften. Meine Hände glitten über das weiße Papier. Es waren Krankenkostenrechnungen, Sparkassenmitteilungen, Nebenkosten und und und. Meine Stiefmutter hatte mir heute Morgen den Auftrag gegeben, bis zum Abend alles ordentlich geordnet zu haben. Jetzt war es um zwei und noch ein Dutzend Ordner lagen verstreut auf dem Boden.Ich schaute auf. Ein Schneeball krachte gegen die Fensterscheibe und Jubel war zu hören. Laut seufzte ich auf. Wie gerne würde ich jetzt unter den Mädchen und Jungen sein. In einer Stunde würden sie zu Tante Staller gehen und dort für jeden eine heiße Tasse Kinderglühwein vorfinden. Sie würden an einem warmen Ofen sitzen und Lebkuchen essen.Ich blätterte einen schon sortierten Ordner durch und bemerkte, dass ein paar Seiten verkehrt herum eingeheftet waren. Ich ächzte und legte mich auf den warmen Teppich. Mein Blick glitt zuerst über die Decke. Sterne prangten dort. Sie nahmen die ganze blaue Zimmerdecke ein. An den Wänden hingen Poster von Landschaften und ein riesengroßes Wandbild nahm eine ganze Längsseite ein. Alle Bilder zeigten Finnland. Im Winter, im Sommer. Seen und Wälder. Alles schien so echt, so als wäre ich mitten in Finnland. Doch ich wusste es besser. Ich war gefangen in meinem Zimmer, welches in einem hässlichen weißen, sauberen Haus in Schleswig-Holstein stand. Und mitten im Zimmer lag eine verträumte Person, die noch nie in Finnland gewesen war. Diese Person war ich.
„Finja! Die Damen aus Italien treffen gleich ein. Du wirst bitte gleich hochkommen und ihnen die Türe öffnen. Danach wirst du ihnen den Kuchen anbieten und Tee kochen. Folgend wirst du wieder in dein Zimmer gehen und dort bis zum Abend bleiben!" Es war die unverkennbar barsche Stimme meiner Stiefmutter Sibilla. „Mach ich!", schrie ich und warf wütend einen Ordner an die Wand. Den S...-Kuchen hatte ich ganz vergessen.
Ich rannte die Treppe hoch und riss die Küchentür auf. Qualm kroch mir in die Nase. Mit den Finger meine Nase zuhaltend, lief ich zum Ofen und holte einen verbrannten Apfelkuchen heraus. Er war vollständig schwarz. Ich schloss die Türe ab und öffnete das Fenster zum Lüften. Ich reinigte den Backofen, fächerte mir zwischendurch Luft zu, schmiss den Kuchen weg, wusch die Backform, kochte orientalischen Tee, stellte das teure Blümchengeschirr auf ein Tablett, schüttete Zucker in ein Schälchen und polierte Silberbesteck. Aber wo bekam ich jetzt auf die Schnelle einen neuen Kuchen her? Panisch schaute ich auf die Uhr: 14:23. Die Zeit rannte mir davon. In sieben Minuten kamen die Damen. Hektisch wuselte ich durch das Zimmer. Öffnete Schubladen, Schränke und bestimmt tausendmal den Kühlschrank. Aber nirgends war ein größeres Gebäck, geschweige denn ein Kuchen, zu finden. Die Florentinakekse und Muskatplätzchen waren nur für die Damen aus Griechenland und die Anisplätzchen und Mandeltaler nur die Spanier. Meine Stiefmutter war Geschäftsfrau und hatte deshalb immer Besuch. Da alles also reserviert war für andere 'hohe' Personen, musste ich schnell zum Bäcker. Mir blieben noch fünf Minuten.
Schnell zog ich mir die Strickjacke drüber und flitzte zur Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Tante Staller sah mich schon kommen und öffnete die Tür.„Was ist passiert?", fragte sie mit besorgter Stimme.„Damen aus Italien", antwortete ich knapp.„Verstehe", murmelte Tante Staller. „Was brauchst du denn dringend?"„Einen Kuchen! Am besten Apfel."Während Tante Staller in die Backstube ging, schaute ich mich um. Die Bäckerei, die gleichzeitig Cafe war, war klein. Es gab nur zwei Tische. Einen langen und einen runden kleinen. Die Fenster waren dekoriert und ein letzter Hauch Weihnachten hing in der Luft.Tante Staller war die Bäckerin des kleinen Dorfes und jeder hatte sie gern. Sie machte den besten Kuchen, die lockersten Brötchen, das leckerste Eis und in der Weihnachtszeit den besten Punsch. Sie war einfach ein Genie in ihrem Gebiet. Tante Staller kam wieder zurück, in den Händen einen Kuchen: „Leider haben wir nur noch Birnenkuchen dagehabt, ich hoffe, Sibilla wird dich nicht umbringen."„Ich hoffe es auch", sagte ich gespielt grimmig. Tante Staller lachte. Dann schob sie mich zur Tür hinaus, genau in dem Moment, als die Kinder vom Park in das Cafe strömten, um ihren Glühwein zu trinken. „Du brauchst nicht bezahlen!", rief sie mir noch nach, als ich schon mit dem Kuchen durch die Tür war.Mittlerweile war es schon dunkel und die Sterne in meinem Zimmer leuchteten hell. Die Damen saßen im Wohnzimmer und man konnte ihr künstliches Lachen bis unten hören.Wenigstens war der eingekaufte Kuchen gut angekommen.Ich saß auf dem Bett und telefonierte mit Svenja.
„Hast du Lust, morgen mit in den Park zu kommen?", fragte sie.
„Vielleicht", seufzte ich. Nebenbei scrollte ich mich durch Facebook. „Bei Tobias läuft heute Abend eine Party", sagte ich beiläufig.
„Gehst du?"
„Nein."
„Du musst aber auch mal wieder etwas tun, woran du Spaß hast!"
„Erzähl das mal meiner Stiefmutter!"
„Du bist echt komisch, Finja. Weißt du?"
„Was soll ich denn deiner Meinung nach machen, Svenny?"
„ Abhauen!", schalte es gleich darauf durch den Hörer.
Ich überlegte. Schon oft hatte ich den Gedanken ans Abhauen in meinem Kopf kreisen lassen. Aber wohin? Würde Sibilla nach mir suchen? Wenn ja, kam ich dann in die Psychatrie?
„Du hast Recht", sagte ich schließlich.
Ein paar Sekunden war es ruhig. Dann sagte Svenja ausweichend: „Überlege dir das vielleicht noch einmal", Sie schien verunsichert. „Das war nicht richtig überlegt von mir."
„NEIN! Ich sitze schon lang genug hier fest. Es ist Zeit, Pläne für die Zukunft zu schmieden!" Mit diesen Worten knallte ich den Hörer auf den Boden und zog den Laptop näher an mich ran. Ich konnte nur noch einen klaren Gedanken fassen. Abhauen. Das Reiseziel hieß Finnland. Ich kündigte meinen Entschluss auf Facebook an. Fünf Jugendliche durften mitkommen. Am Montag sollte die Reise losgehen.
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Traumpfad (Bis 2045 pausiert!)
AdventureWenn Träume wahr werden sollen... Muss man die Chance ergreifen... Muss man den weiten Weg gehen, der einem sich bietet... Den Traumpfad... Für Finja bietet sich die Gelegenheit. Und sie ergreift sie. Mit fünf anderen Jugendlichen macht sie sich...