Kapitel 11

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Bald wurde Frühling und somit verschwand die kalte Luft und die eingefrorenen Bäche und Seen. Die ersten Vögel umkreisten das Gebiet, indem wir uns aufhielten. Eine sich bis zum Horizont erstreckende grüne Fläche. Ein kühles Lüftchen wehte, aber die Sonne beschien unsere Gesichter, weshalb uns die sechs Grad nichts ausmachten. Wir lagen auf unseren Isoliermatten im Kreis und schauten zum Himmel. Franziskas Wunde war so gut wie verheilt. Man sah ihr zwar den Schuss noch deutlich an, aber es schmerzte nicht mehr und sie konnte ihren Arm bewegen. Das war das Wichtigste.

Wir erzählten uns alle möglichen Geschichten, von den peinlichsten Momenten bis hin zu unseren Erzfeinden. Nur die Familie ließen wir aus. Seit dem Schussunglück sind wir immer mehr als Gruppe zusammen gewachsen und vertrauten einander. Doch die eigenen Geheimnisse der anderen erforschten wir nicht. Wir hatten Respekt voreinander und mischten uns nicht in die Sachen ein, die uns nichts angingen. Samuel und ich behandelten uns freundlich- was man aber keine Freundschaft nennen konnte-, aber bis zum heutigen Zeitpunkt hatte ich nicht verstanden, warum er nicht mit mir weitergehen wollte. Ich hakte aber nicht mehr nach. Ich war froh, endlich dem Streit entflohen zu sein.

Während Emily uns von ihrem Buch: „Berühmte Autodidaktin" erzählte, bereitete Franziska Löwenzahn Gele vor. Ich war schon oft in Versuchung gekommen, aber meistens hielt ich mich zurück. Franziska gegenüber war ich wachsam. Alle wussten es und obwohl wir beschlossen hatten, uns zu vertrauen, ließen sie mich gewähren. Zwischen Franziska und mir war etwas entstanden, was ich nicht deuten konnte. Seit dem ich sie gerettet hatte, hatte sich etwas zwischen uns gestellt. Ich konnte es aber noch nicht erkennen.

Eine Windböe trug den süßen Gelegeruch zu mir herüber und ich sog in ein. Ich würde ihn probieren, aber erst nachdem die anderen gekostet hatten.

„Was machst du aus den Wurzeln und den Blättern?", fragte Emily zu Franziska gewandt. Franziska schaute von ihrer Arbeit auf und zeigte Emily eine Schale, in der sie die Löwenzahnblüten aufbewahrte, dann erklärte sie: „Aus den Blättern bereite ich einen Salat zu und die Wurzeln koche ich. Dann haben wir heute Abend ein leckeres Essen."Joel rümpfte die Nase. Er konnte vegetarisches  Essen nicht ausstehen. Ich knuffte ihn in die Seite: „Bald gehen wir auf die Jagd. Versprochen. Aber Pflanzen beinhalten Bitterstoffe, Vitamine und Mineralien, die wir brauchen."Franziska nickte stolz und ich lachte.Joel entgegnete: „Fleisch beinhaltet Energie, Fett, Proteine und Cholesterin. Das brauchen wir genauso sehr!"Wir lachten und wandten uns wieder unseren Beschäftigungen zu. Joel, Venla und ich spielten Karten, was lustig war. Außer, dass Venla immer gewann. Emily half Franziska beim Blätter rupfen, was sie sehr spannend fand. Samuel lag ganz still da und starrte in den Himmel. Er überlegte. Das tat er inzwischen öfters, aber man wusste nie, worüber er nachdachte. Ich hätte es gerne gewusst und Emily auch. Mittlerweile wussten wir, dass wir beide ihn sehr anziehend fanden. Franz jedoch war am komischsten. Seit wir dem Nebel entkommen waren, schrieb er täglich Tagebuch. Wenn ich nur wüsste, was er die ganze Zeit notierte.Ansonsten hatte er sich wenig geändert. Er machte fast alles, was mit Handwerk zu tun hatte und sorgte für seine Schwester. Eigentlich völlig normal... Eigentlich...

Ich hatte es geahnt. Etwas hatte mit Franz nicht gestimmt, er hatte sich verändert. Sein Meinungsbild war skeptisch geworden und seine Lässigkeit war verschwunden. Er zweifelte. An der Reise. So stand es in seinem Tagebuch, jedes Wort ließ mich gefrieren.

Mutter, wieso habe ich dir das nur angetan? Wieso habe ich dich verlassen? Jetzt musst du alleine stark sein. Es war so blöd von mir, Franziska in ihrem Fluchtplan zu unterstützen. Aber jetzt ist es zu spät, ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Wir sind gefangen in einer Deutsch- Finnischen Gruppe, die sich nicht einmal besonders gut versteht und nur nach außen hin den Anschein macht, gut miteinander klar zukommen. Wir wandern immer im gleichen Rhythmus, laufen dort und dort hin, aber für was soll das alles gut sein? Emily, die netteste Begleiterin, abgesehen von Franziska, hat Träume, die sie verwirklichen will. Da kann ich mitkommen. Was Samuel denkt und was er in dieser Gruppe sucht, weiß niemand. Er verhält sich immer ganz still und schreitet nur ein, wenn die Stimmung zu eskalieren droht. Joel passt überhaupt nicht in die Gruppe rein. Zuerst war er ein großer Macho, jetzt spielt er überhaupt keine Rolle mehr. Besonderes leisten tut er auch nicht. Über Venla weiß ich noch nicht so viel. Sie ist neu und kommt gut mit Finja, zu der ich gleich komme, klar. Ich finde es nicht gut, dass wir ein so junges Mädchen in die Gruppe aufgenommen haben. Sie ist erst 15 und es dauert nicht mehr lange, da wird die Polizei auftauchen und uns anklagen ein Mädchen aus dem Waisenhaus entführt zu haben!Finja, die Gründerin der Gruppe, hat ihren Traum erfüllt, wie es scheint: Abhauen, Freiheit und Finnland. Sie ist wahrscheinlich die Glücklichste aus der Gruppe, aber sie macht sich nie Gedanken, wie es uns gehen mag. Sie ist selbstsüchtig, wie es scheint, und aufbrausend. Zwar hat sie meine Schwester gerettet, aber damit hat sich ihre Schuld nicht beglichen. Sie hat uns in die Gruppe gebracht. Sie hat mich hier rein katapultiert! Sie setzt uns der Wildnis aus und schämt sich nicht einmal dafür! Langsam reicht es mir mit ihrer Spontaneität. Am liebsten würde ich die Gruppe gleich verlassen und Franziska mitnehmen. Aber ich weiß nicht, was ich dann machen soll. Franziska kann auf jeden Fall nicht mehr nach Hause... Zwar könnte ich es wieder in die Zivilnation schaffen, aber Franziska würde nicht mitkommen. Und ich lasse sie nicht im Stich. Aber was soll ich dann tun? Soll ich mich Finja stellen und ihr meine Meinung von dieser Reise ins Gesicht sagen? Aber ich kann ihre Reaktion nicht abschätzen. Wie wird sie reagieren? Wird sie mir zuhören? Ihrem Temperament nach zu schließen würde sie mir höchstens ein paar böse Blicke zu werfen oder mich anschreien und zur Ordnung rufen. Tja. Ich habe wohl keine Wahl. Ich muss so weiter machen wie bis her. Unauffällig und ja nicht Blicke auf mich ziehen. Gruß, Franz

Stocksteif ließ ich das Büchlein aus meinen Händen gleiten und saß mit schweißnassen Händen da. Er hatte mich genau so beschrieben, wie ich wahr. Aufbrausend, selbstsüchtig und dass ich niemanden zu Wort kommen lasse. Und das Schlimmste war, es war alles richtig. Er hatte mich aufrichtig und perfekt beschrieben. Als ich Samuel gefragt hatte, wie ich rüber kam, hatte er gelogen. Das wusste ich nun. Anscheinend waren wir nicht viel weiter gekommen seit dem Schussunglück. Ich hatte gedacht, dass wir uns nun vertrauten und einander achteten, aber nein. Der Schein trug...

Der Sirup wurde geschlürft und Franziska sang mit leisen Worten gen Abendrot. Der Himmel war klar und mit Sternen bestückt. Ein schöner Anblick, wenn die Stimmung in mir genauso gewesen wäre. Ich trank den letzten Schluck Sirup aus und murmelte einen Dank. Den ganzen Spät- Nachmittag hatte ich mich auf jetzt gleich vorbereitet. Ich wollte, wenn die anderen schliefen, mit Franz reden. Er sollte wissen, dass ich auch anders konnte, nicht nur selbstsüchtig, sondern auch einfühlsam. Es würde aber etwas dauern, bis ich endlich ungestört mit Franz reden konnte. Aber nein. Als ich sah, wie Franz aufstand und austreten ging, rannte ich ihm hinterher. „Franz!"Er drehte sich um und blickte mich aus seinen braunen Augen mit wachen Sinnen an. Ich kam keuchend zum Stehen und spuckte die Löwenzahnköpfe aus, die sich nicht in Gele hatten verarbeiten wollen.Franz schaute mich immer noch an und ließ seine schulterlangen Haare nach vorne fallen. Durch sie hindurch musterte er mich eindringend und mir fielen das erste Mal Striemen an seinen Händen auf. Ich ging ein Stück auf ihn zu und schob seine Jackenärmel und seinen Pulloverärmel hoch. Er wehrte sich nicht, was mich aufmunterte. Die Striemen zogen sich über seine ganzen Arme bis hinauf zu seiner Schulter. „Was ist passiert?", fragte ich geschockt. Franz' Miene verdunkelte sich und er blickte weg. „Okay, wenn du es nicht sagen möchtest, ist es okay." Ich klopfte ihm zaghaft auf den Rücken, denn ich befürchtete, dass er dort dann Schmerzen empfinden würde.Franz murmelte kurz etwas und ging dann ohne sich umzudrehen weiter. Ich schaute ihm hinterher und überlegte, woher er die Striemen wohl hatte.

Als Franz zurück kam, schaute ich kurz auf seine Hände, aber er hatte wieder Handschuhe an, die seine Wunden bedeckten. Ich erzählte niemandem davon, denn es schien auch niemand davon etwas zu wissen. Heute fiel mir auch das erste Mal etwas wichtiges auf: Franz trug immer Handschuhe, egal ob beim Schreiben oder wenn er aß. Er wollte nicht, dass wir es sahen. Er hütete es wie seinen Schatz. Wie schrecklich musste sich das anfühlen! Und dann, als er sie abgelegt hatte für ein Moment, ist genau das eingetreten, was er nicht gewollt hatte. Jemand hatte sie gesehen. Die fürchterlichen Striemen, die wie Peitschhiebe aussahen. Peitschhiebe...Ich erinnerte mich an sechs kleine, aber bedeutende Wörter aus dem Tagebuch: Jetzt musst du alleine stark sein...

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