Kapitel 6

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Eine neugierige Finnin

Am nächsten Morgen war ich immer noch wie benebelt. Emily fand ich nirgends auf und so gingen Franziska und ich alleine in den Speisezahl. Ich traute meinen Augen nicht. Überall saßen Kinder. Die Erzieherin sagte ein paar unverstàndliche Finnische Wörter, auf die die Kinder mit „Hei", antworteten.
„Verstehst du, was die uns sagen wollen?", fragte ich Franziska, ohne die anderen aus den Augen zu lassen. Franziska schüttelte den Kopf.
„Ich übersetzte es frei mit: Guten Morgen. Kinder, dass sind unsere neuen Gäste. Heißt sie willkommen.", sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und lächelte von einem Ohr zum anderen. Samuel stand neben dem Kamin und grinste spitzbübisch. „Wo ist Joel?", fragte ich, während wir aßen. Samuel saß neben mir und ein vertrauter Geruch strömte in meine Nase. Nicht der des Weizenbreis, obwohl man es hätte meinen können, nein, der von Samuel.
„Er liegt krank im Bett. Sein Fieber ist heute Nacht gewaltig gestiegen. Emily ist bei ihm, aber viel kann sie auch nicht machen."
„Und wenn wir nach Medizin fragen?"
„Hm. Die Idee kam mir auch schon, aber Medizin ist teuer und das Waisenhaus kann uns nicht einfach Geld schenken, es hat sowieso schon wenig. Wir müssten was als Gegenleistung machen, was schlägst du vor?" Ich überlegte und endlich kam mir die rettende Idee: „Wir könnten die Kinder betreuen. Solange bis Joel wieder auf den Beinen ist. Emily kann bei ihm sein und wir anderen teilen uns auf. So können sich die Erzieher mal wieder ausruhen. Sie sehen völlig übermüdet aus. Und abends können wir auf den Marktplatz gehen und Spenden einsammeln." Samuel faltete seine Serviette zusammen: „Aber Finja, du kannst doch überhaupt kein Finnisch und ich weiß nicht, wie die Kinder reagieren werden, wenn sie von uns betreut werden." Ich wusste, dass er insgeheim davor Angst hatte, dass ich nicht mit Kindern umgehen konnte und dies machte mich traurig. Er hatte überhaupt kein Vertrauen in mich. Ich wollte ihm beweisen, wie viel in mir steckte.

Zwei Stunden später hatte die Erzieherin endlich Zeit, um mit uns zu reden. Anfangs lag in ihrer Stimme ein bisschen Skepsis, aber dann fingen Samuel und sie an zu lachen. Ganz verwirrt zog ich eine Augenbraue hoch.
„Und, was kam raus?"
„Sie ist einverstanden.", sagte er grinsend.Ich knuffte ihn in die Seite und ging dann wieder auf Abstand. Wir wurden eingeteilt. Ich würde zusammen mit Emily auf der ersten Etage auf die Kinder aufpassen, Samuel auf der zweiten und Franz und Franziska auf der dritten. Ich freute mich auf die Aufgabe und bastelte schon alles haargenau aus. Leider gab es ein Problem. Die Sprache. Emily und ich warteten geduldig, bis die Kinder wieder in ihre Zimmer zurück kehrten. Wir hatten nur Mädchen zu betreuen, was die Sache ein bisschen einfacher machte. Die meisten schlossen aber sofort die Türe und verriegelten sie von innen. Was war an uns so schrecklich? Leise klopfte ich an die letzte Türe.
„Herein", flüsterte eine Stimme. Verwundert öffnete ich zaghaft die Türe und trat in ein kleines, graues, staubiges Zimmer. Auf dem Fensterbrett hockte ein schmächtiges, blondes Mädchen. Ihre blauen Augen spiegelten sich trostlos in der Scheibe. Lautlos schloss ich die Tür und setzte mich auf den Teppich. Da das Mädchen weiter aus dem Fenster schaute, begann ich Puzzleteile, die auf dem Boden zerstreut lagen, zusammen zufügen. So verging die Zeit. Ich spürte Blicke in meinem Nacken und arbeite akribisch an dem Puzzle weiter. Es war eine Landschaft. Verwunschen und zauberhaft.
„Das ist das letzte Gemälde von meiner Mutter." Ich blickte auf und sah das Mädchen neben mir hocken.
„Woher kannst du deutsch?"
„Meine Mutter war Deutsche. Ich habe von ihr die Sprache gelernt."
„Und wo ist deine Mutter jetzt?"
„Sie hatte kein Geld mehr und hat mich hier abgegeben."
„Oh." Ich rückte näher an die Kleine und zog sie in meine Arme. Ich wusste, wie schrecklich es war, die Familie zu verlieren. „Sie war schrecklich arm. Wir lebten auf der Straße und haben nach Geld gebeten. Aber dann gaben uns die Leute irgendwann nichts mehr."
„Und was ist mit deinem Vater?" Ich wollte sie nicht drängeln, aber ich sah, wie gut ihr es tat, über ihre Vergangenheit zu reden.„Ich habe ihn nie kennen gelernt. Wie heißt du?"
„Finja. Und du?"
„Venla."
„Das ist aber ein schöner Name. Kommt dein Vater aus Finnland?"
„Ja. Meine Mutter und er haben sich hier lieben gelernt. Sie hat mir alles hinterlassen, was sie besaß. Unter anderem Briefe." Venla hatte Neugierde in mir geweckt, aber ich fragte nicht nach.
„Erzähle mir etwas über die Natur.", forderte sie mich auf.
„Es ist kalt, aber das weißt du ja bestimmt", ich lachte. „Und es ist schwierig Nahrung zu finden."
„Das ist mir schon klar. Aber welche Erfahrungen hast du gesammelt?" Ich überlegte: „So viel habe ich noch nicht gelernt. Warte. Welche Beeren giftig sind und welches Holz sich gut zum Bau von Unterschlüpfen eignet und wie man in der Wildnis Essen findet. Es gibt verschiedene Feuertechniken. Ein paar kann ich schon. Aber das Wichtigste ist,", ich stockte kurz und sah Venla eindringlich an, „dass man der Gruppe Vertrauen schenkt und sich gegenseitig hilft. Nur so hat man die Chance zu überleben." Als ich darüber nachdachte, erschrak ich. Wie Recht ich hatte. Venla riss mich wieder aus Gedanken: „Was wollt ihr hier überhaupt? Und was ist euer Ziel?"
„Ach, Venla." Wenn du wüsstest...
Venla fragte nicht mehr nach, aber ich spürte, dass sie es gerne wissen würde. Also begann ich zu erzählen. Von meiner Stiefmutter, von meinem Traum, alleine zu leben in Mitten den Wäldern Finnlands. Venla unterbrach mich nicht. Das war gut so, sonst hätte ich den Faden verloren. Aber was war unser Ziel? Wir wanderten die ganze Zeit nach Nord-Osten, aber irgendwann würden wir dann in Russland landen und das wollte ich nicht. Wir brauchten ein genaues Ziel, ein Ziel, dass unsere Träume erfüllen würde. Unser „Ich" erklären würde. Morgen früh, würde das Ziel stehen. Doch ob wir uns einigen könnten?

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