Kapitel 7 ein halb

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Ich verneinte. Es fiel mir ungewöhnlich schwer, ihr einen Korb zu geben. Warum wusste ich nicht genau, vielleicht, weil sie mir ihr halbes Leben anvertraut hatte.

Aber die Tatsache war nun mal, dass Joel und ich Finnland größtenteils mit dem Zelt bereisen wollten und dieses Zelt nicht von Fan Girls belagert werden sollte. Zwar bot es mehr als zwei Schlafplätze, aber den dritten würde ich nur jemandem anbieten, der sich am Riemen reißen konnte. Und ganz sicher nicht wollte ich mit ansehen müssen, wie Joel von früh bis abends angebaggert wurde.

Am Dienstagmorgen war Emily immer noch nicht ganz vergessen, aber das Packen und Organisieren nahm mich so in Anspruch, dass mir gar keine Zeit blieb, mir über andere Sachen Gedanken und Vorwürfe zu machen.

Ich besuchte nicht die Schule. Erstens war ich nicht erwünscht, zweitens hatte ich nicht das Bedürfnis Kuchen zu essen und drittens war ich so erschöpft am Montagabend nach Hause gekommen - vollbepackt und mit weniger Geld in den Taschen als eigentlich gedacht -, dass Silva meinte, ich bräuchte einen Tag Erholung.

Erholung ist das falsche Wort. Das wurde mir bewusst, als mir einfiel, dass ich noch Blumen hatte kaufen wollen. Und dass ich mich noch bei Svenja verabschieden musste. Sie war die einzige Person, die mich verstehen würde. Wirklich verstehen würde. Die für mich hinter all der Krankheit lächeln würde. Kein erzwungenes Lächeln, nein, ein echtes.

Um acht Uhr verließ ich die Wohnung. Ungewohnt spät für einen Frühaufsteher. Die Straßen in dem Viertel waren noch unbelaufen, was mir meinen Weg wesentlich schöner machte. Ich genoss die Stille, die nur ab und zu von ein paar vorbei eilenden Leuten mit Zigarette in der Hand durchbrochen wurde.
Der Qualm stieg mir in die Nase. Es roch anders. Nach Leben - obwohl es ganz sicher nicht Leben schenkte - nein. Es roch nach dem, was einmal auf einen zukommen würde. Arbeit, Mann, Kinder, Freund, Tod. Wahlweise konnte man Mann in Plural setzen und den Freund in jede Lücke einsetzen. Oder weglassen - wobei das wohl die Ausnahme war.
Ich versuchte für mich eine persönliche Reihenfolge festzulegen. Abitur, dann ein Studium, die Arbeit, einen Freund, reisen und nebenbei arbeiten, Rente, und schlussendlich sterben. Das klang einfach. Naiv nahm ich beglückt die Straßen und warf den Häusern überlegene Blicke zu. Ich fühlte mich gut. Besser. Ich wollte nicht wie die Frau im vierten Stock enden, deren Beine oftmals zu schwach waren, um die Treppen zu steigen und die sich keine andere Wohnung leisten konnte. Auch nicht wie der Mann links im Bruchkiosk, der sich schon das vierte Bier diesen Morgen reinlaufen ließ.
Es war traurig mitanblicken zu müssen. Man sagte immer so schön "Die Hoffnung stirbt zuletzt", aber in diesen Fällen müssten doch große Wunder geschehen. Nicht existierende Familienmitglieder, die plötzlich auftauchen, das würde zumindest die Frau retten. Es sei denn, sie hatten ebenfalls kein Geld.
Da war das nächste Defizit der Gesellschaft. Die verarmte Frau konnte die abfälligste Arbeit verrichten haben und hätte trotzdem Millionen weniger verdient als ein großer Fußballer, dem das Talent gegeben war.
Ehe ich mich in Zweifel verlieren konnte, ob ich ein Talent besaß, betrat ich das wunderbarste Geschäft ganz Berlins.
Nicht etwa crusz BERLIN, in dem man vor lauter Glitzer und Spitze ohnmächtig wurde, noch McArthurGlen Designer Outlet Berlin, zu dem über 90 Läden gehörte.
Das wunderbarste Geschäft war ein Blumenladen. Ein Geschenk Gottes. Ich hasste es, Samen einzugraben oder Vasen mit Wasser zu befüllen. Doch hier war alles anders. Ich füllte meinen Kopf mit den tausend Eindrücken, die sich mir ergaben. Die rosafarbene Wand hinter der Kasse lächelte mich an. Ich hasste rosa. Es erinnerte mich an meine Schule. An meine alte Schule!, verbesserte ich mich. Doch in diesen wenigen Quadratmetern wandelte sich meine Wahrnehmung jedes Mal auf's Selbe, wenn ich durch die grün berankte Tür trat.
"Guten Tag", ertönte eine piepsstimme hinter einem Vorhang.
"Hallo." Ich hielt inne. Tropische Düfte vermischt mit dem süßen Geruch nach Bonbons ließ meine Stimme sanft und fern klingen.
Ich hockte mich auf eine Bank und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Mein Blick blieb zuerst bei der Hintertür hängen, die in den Innenhof führte und glitt dann hinüber zur Kasse, die immer noch nicht besetzt war. Prächtige Farben spiegelten sich in dem Glas des Fensters, aus dem ich hinaus auf die sich füllenden Straßen schaute.
"'Trời đang mưa! Mai Linh, bed

Traumpfad (Bis 2045 pausiert!) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt