Kapitel 12

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Geheimnisse werden gelüftet

Peitschenhiebe! Peitschenhiebe! PEITSCHENHIEBE! In meinem Kopf dröhnten die Wörter. Ich hielt mir die Ohren zu und Schweiß perlte mir von der Stirn. Die Wörter verdoppelten, verdreifachten sich und ließen meinen Körper beben. Jede einzelne Silbe schrie in mir und jedes Wort fühlte sich grausamer an. Was hatte Franz erleiden müssen, bevor er der Gruppe beitrat? Welche Schmerzen hatte er ertragen müssen? Wer hatte ihm das angetan? Es würden Narben, so groß wie Löffel zurück bleiben und man konnte nichts dagegen tun. Aber etwas war auch seltsam: Er wollte wieder nach Hause. Was bedeutete das alles? Ich ordnete meine Gedanken und stieß dabei gegen eine Sackgasse: Und Franziska? Was hatte sie ertragen müssen? Andere Sachen oder waren ihre Beine gekennzeichnet von jahrelangen Schnitten? Schreckliche Bilder zogen in meinem Kopf vorbei. Warum hatten sie uns nicht eingeweiht? Was hinderte sie daran?

Wie heißt dieses Murphys Gesetz doch gleich? Ja, genau: „Alles was schief gehen kann, geht schief." So ist es und so wird es auch immer sein. Das ist besiegelt.

An dem Abend kam es zu dem ersten, richtigen Tränenschwall. Es fing an, als Franz Feuerholz sammeln ging und somit seine Schwester kurz alleine lies. In ein paar Minuten kann viel passieren, so sagt man. Nachdem Franz sich auf die mühselige Suche nach Holz gemacht hatte, fing Emily an, von Mädchen in Gesetzlosen Ländern zu sprechen. Erst mit belanglosen Sachen, dann wurde es aber ernster. Sie erzählte von Zwangsheiraten und von Frauen, die, wenn sie nicht den Vorstellungen des Mannes entsprachen, ihre Hände auf die heiße Herdplatte gedrückt bekamen. Aber das Schlimmste kam noch: Vergewaltigungen. Emily bemerkte gar nicht, dass Franziska anfing zu schreien und zu wimmern. Sie erzählte einfach immer weiter und blickte dabei ins Nichts. Samuel versuchte Franziska zu trösten, aber sie schlug um sich und schließlich gab Samuel auf und versuchte Emily zu stoppen. Doch diese hörte ihm gar nicht zu und erörterte gerade eine schlimme Szene.

Nach einer Weile war es Samuel leid, dass er missachtet wurde und ging ins Zelt. Joel und ich sahen uns panisch an. Was zur Hölle war mit Franziska los? Und konnte Emily nicht einfach aufhören? Sah sie nicht, dass sie Franziska Splitter durch den Körper rammte? Joel riss sich von meinem entsetzten Blick los und rannte auf Emily zu. Vielleicht hatte er gedacht, damit würde Emily aus ihrer Welt auftauchen und endlich dem entgegen sehen, das sie angerichtet hatte und den Mund halten, aber dazu kam es nicht. Emily blieb reglos sitzen und ihr Mund gab immer wieder die selben Töne von sich. So kam es, dass sie nicht bemerkte wie sich Joel auf sie stürzte und nach hinten riss. Ein schriller Schrei kam aus Emilys Kehle, dann klappten ihre Augen zu. Franziska schrie nur noch lauter und gab gequälte Rufe von sich.

Ganz durcheinander beobachte ich das Schauspiel. Joel lag auf Emily, die schützend ihre Hände vor dem Gesicht hatte, als erwartete sie, dass er sie vergewaltigen würde und Franziska blickte mit weit aufgerissenen Augen zu den beiden. In dem Augenblick begriff ich. Plötzlich  stieß auch Franz wieder dazu und alles führte zu einer riesigen Katastrophe und einem einzigen Missverständnis.                                                                                                                                                                          Franz packte Joel an den Schultern und zerrte ihn von Emily, die kreidebleich dalag. Daraufhin fing Franziska wieder an zu schluchzen und schrie immer wieder unverständliche Wörter. Dazu gesellten sich jetzt auch Franz Fluche: „Joel! Spinnst du! Was hattest du mit Emily vor? Wolltest du sie vergewaltigen? Wie kannst du nur! Du bist so ekelhaft!"

Joel, der nun nichts mehr verstand, blickte ihn verwirrt an und stotterte: „Ich... Ich habe nichts gemacht! Ich wollte doch nur- Finja, komm, erkläre es ihnen, du hast es doch gesehen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr."                                                                                                                                                            Ich wollte etwas sagen, da schnitt Franz mir schon das Wort: „Verschwinde! Ich will dich nie wieder sehen!"                                                                                                                                                                                        „Franz! Du hast kein Recht, ihn rauszuwerfen! Bitte, beruhige dich.", sagte ich möglichst neutral.         Ich hätte wissen müssen, dass ich ein Nerv von Franz getroffen habe. „Ich und beruhigen? Ich? Gott, verdammt, Finja, bist du wirklich so dumm? Joel hatte gerade gegen Emilys Willen sie küssen wollen oder sonst was mit ihr anstellen wollen. Weißt du wie so etwas ausgeht? NEIN! DU KANNST ES NICHT WISSEN, DENN DU HAST SO ETWAS NOCH NIE ERLEBT!" Die letzten Sätze brüllte Franz.

Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte langsam den Kopf: „Nein, ich weiß NICHT wie sich so etwas anfühlt, ABER du weißt auch nicht, was Joel eigentlich vorhatte. Er wollte nämlich nur die Aufmerksamkeit von Emily auf sich ziehen, damit sie endlich aufhört von Vergewaltigungen zu sprechen. Franziska wäre deshalb nämlich fast an ihren eigenen Schreien erstickt!"

Plötzlich wandelte sich Franz' Meinung und er drehte sich zu Emily um: „Du hast doch nicht ernsthaft von Vergewaltigungen gesprochen?"                                                                                                                                  Emily machte große Augen und wisperte ein leises Doch, dann hielt sie sich schützend die Ohren zu, als ob sie befürchtete, Franz würde auch sie gleich niederbrüllen. Und das hätte er auch getan, wäre Samuel nicht aus dem Zelt gekommen und hätte ihm nicht die entscheidende Frage gestellt, die Franz völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Er setzte sich hin, um einen kühlen Kopf zu bekommen - dass war auch bitter nötig - und schaute anschließend seine Schwester an. Sie wechselten ein paar Blicke, dann wandte er sich zu uns. „Ich will euch erzählen, warum wir hier sind, aber ihr müsst mir versprechen, mich nicht zu unterbrechen. Ja?"

Wir nickten stumm.

„Franziska und ich wohnen bei unserer Mutter und bei ihrem Vater. Unser Vater ist tot und unsere Mutter geht ganztags arbeiten, um uns über Wasser zu halten. Den Nachmittag verbringen Franziska und ich zusammen, wenn sie nicht tanzen ist. Da unser Opa keine Hobbys hat, verwendet er uns, als sein Spielzeug. Mich schlägt er regelmäßig und ich kann mich nicht währen. Er war früher Soldat, müsst ihr wissen. Er hat keine Frau und auch keine Freundin und deshalb hat er niemanden, mit dem er seine Lustspielchen treiben kann. Vor drei Jahren hat er sich dann einfach seine Enkelin genommen und mit ihr es getrieben. Franzi wollte es natürlich nicht, aber sie konnte nichts dagegen tun. Opa hat gedroht, wenn wir unserer Mutter davon erzählen, sie umzubringen und Franziska an reiche Männer zu vermieten. Und so erzählten wir es niemanden, selbst nicht der Polizei. Wir trauten uns nicht. Opa behandelte unsere Mutter wie eine Sklavin und trieb sie in die Verzweiflung. Sie versprach uns, dass wir irgendwann fortziehen würden, aber sie besaß kein Geld und war auch nicht im Stande zur Polizei zu gehen, weil Opa sie ständig überwachte. Franzi und mich quälte er weiterhin, unsere Mutter ahnte nichts, und dann, vor zwei Monaten, zeigte mir Franzi deinen Facebook Eintrag, Finja. Es war unsere Chance. Wir ließen unsere Mutter alleine zurück. Ich kann mich immer noch nicht mit dieser Entscheidung zurecht finden..." Franz fing an zu weinen und hasserfüllt zog er seine Handschuhe aus und hielt seine vernarbten Hände vor sein Antlitz.

Der Schock stand uns allen ins Gesicht geschrieben. Es waren hässliche, große Narben, die nicht so aussahen, als seien sie gepflegt worden. Dann blickten wir alle zu Franziska, die ihre Jacke abgelegt hatte und schmerzhafte Striemen am Hals offenbarte.                                                                                              Im Gegensatz zu Franz wirkte sie völlig erschöpft und nicht erzürnt. Die anderen schienen genauso entsetzt wie ich und allen blieb die Sprache weg.

Ein trauriges Familiendrama. So nannte ich den Tagebucheintrag, den ich in der Nacht schrieb. Ich hatte beschlossen, jedes Geheimnis, dass hier in der Gruppe offenbart wurde, zu verewigen und dann mir auf alle Beweggründe einen Reim zumachen. Zum Beispiel verstand ich jetzt schon viel besser, warum Franz immer bei seiner Schwester versuchte zu sein und sie so treu schützte. Insgeheim war ich froh, dass Emily über Vergewaltigungen gesprochen hatte, denn nur so war das Geheimnis von Franz und Franziska an die Luft gekommen.

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