02 | Verräterisches Glück

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Mit einem Knall öffnet sich die schwere Tür des Rathauses und angeführt von einer hochgewachsenen Frau erscheint das Team aus Distrikt vier. Vorne weg stolziert natürlich Cecilia Sae, genannt Cece. Sie ist die Betreuerin, welche vom Kapitol geschickt wird. Hauptsächlich führt sie durch die Ernte, aber zumindest auf dem Papier sorgt sie vor den Hungerspielen für die Tribute.

Ihr heutiges Ensemble besteht aus einem orangenen Blazer mit farblich dazu passendem Ballonrock, der zu allem Übel in der Sonne seine Farbe wechselt. Bestimmt zwanzig Zentimeter lange Absätze heben sie in Schwindel erregende Höhen und wie immer erscheint es wie ein Wunder, dass sie überhaupt geradeaus laufen kann.
Die Krone wird dem ganzen allerdings durch Ceces neuerliche Verunstaltungen aufgesetzt: Zwei goldene Blumenranken winden sich von beiden Augenwinkeln hinab zum Mundwinkel. Es ist nicht bloß ein schlichtes Tattoo, nein, die Blüten wölben sich unter ihrer straff gespannten Haut hervor, als wollten sie daraus hervorbrechen.

Dazu trägt sie knallpinken Lippenstift und Lidschatten, was mir in meiner Kindheit regelmäßig Albträume mit ihr in der Hauptrolle beschert hat. Jetzt entlockt mir die Aufmachung nur noch ein müdes Grinsen. Aus heutiger Sicht sind diese Kapriolen der Kapitolbewohner lächerlich.

Hinter ihr folgen, wie Lämmer, Bürgermeister Southshore und seine Ehefrau. Blass und unscheinbar schleichen sie mit gesenkten Köpfen auf die Bühne. Ihre feine Leinenkleider sind im Vergleich zu Ceces Ensemble ärmlich. Und überhaupt sehen beide so aus, als wünschten sie sich weit weg von der Ernte. Nicht, weil sie Angst vor der Auswahl haben, sondern vor ihrem eigenen Volk.
Zwar hält Southshore jede seiner Reden mit Inbrunst, aber er traut sich nie, dabei den Kopf vom Rednerpult zu heben. Er weiß, dass ihm andernfalls aus hunderten Augenpaaren Verachtung entgegenschlägt.

Auf sie folgen schlussendlich die fünf verbliebenen Sieger. Zwei Frauen und drei Männer. Sie verblassen allesamt gegen Ceces Auftritt, was schon eine Leistung ist. Es spricht einmal mehr dafür, wie verrückt die Betreuerin aus dem Kapitol ist. Im Vergleich zu ihr ist das Lächeln der Sieger schmal und sie winken zwanghaft in Richtung der Kameras in dem Versuch, sich genauso fröhlich wie sie zu präsentieren.
Die Fünf sind nicht alle, die einst siegreich waren, doch mehr sind von ihnen bis zum heutigen Tage nicht geblieben. Die anderen sind gestorben und böse Zungen behaupten, dass das Kapitol seine Finger im Spiel hatte ...

Da es seit vier Jahren keinen neuen Sieger gegeben hat, ist es ungewiss, ob es bald noch weniger sind. Immerhin ist die älteste, Mags, schon über 80. An ihre Spiele erinnert sich niemand mehr. Wenn ich die runzlige kleine Dame ansehe, kann ich mir unmöglich vorstellen, dass sie einst jemanden getötet hat. Sie sieht nicht anders aus als die alten Fischersfrauen, die unten am Hafen mit zittrigen Fingern kaputte Netze flicken.

Andererseits bedeutet diese traurige Bilanz der jüngsten Hungerspiele auch, dass in den vergangenen Jahren acht Tribute in der Arena gestorben sind. Die Bürde, die auf dem Team lastet, muss groß sein, denn mit jedem erfolglosen Spiel sinken wir wieder in der Gunst des Kapitols. Da ist es auch egal, dass unser letzter Sieger der begehrte und beliebte Finnick Odair ist. Ihm wird es so oder so gut ergehen und das weiß er wahrscheinlich genau.

Auf jeden Fall bringt er ein suggestives Grinsen hervor – nicht für das Publikum, sondern für die Kameras, die alles live ins Kapitol übertragen. Die Zuschauer lieben ihn, im wahrsten Sinne des Wortes. Ständig hat er eine neue Liebschaft in der Hauptstadt und frönt dort einem ausschweifenden Lebensstil. Von sämtlichen Siegern ist er der unangefochtene Liebling und damit spielt er so leichtfertig, wie er Knoten knüpfen kann.

Kaum zu glauben, dass ich mal Mitleid mit ihm hatte. Aber er hat mich eines Besseren belehrt – ihm gefällt dieses Leben offensichtlich. Allein schon deswegen kann ich ihn von allen Siegern am wenigsten leiden. Sicherlich verschwendet er keine großartigen Gedanken an seine Tribute, denen er ein Mentor sein soll, sondern beschäftigt sich lieber mit seinen Betthäschen.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt