04 | Fremde Schicksale

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Unser Abendessen wird unter großen silbernen Kuppeln verborgen von Dienern hereingetragen. Mit ausladenden Gesten heben sie die Hauben von den Platten und enthüllen dampfende Eintöpfe, Braten, gewürzte Kartoffeln und unzählige kleinere Leckereien.
Kerzen werden auf dem Tisch entzündet, während alle zu ihrem Besteck greifen. Ein jeder scheint hungrig zu sein und auch ich merke, wie sich das Magenknurren bemerkbar macht. Trotz all der Furcht vor dem, was kommen wird, bekomme ich dank der verführerischen Düfte Lust, zu essen.

Eine Zeit lang sind nichts als Essensgeräusche zu vernehmen. Zum ersten Mal im Leben schmecke ich so etwas Fantastisches wie Wildtierfleisch. Es zergeht einem förmlich auf der Zunge. Mehrmals nehme ich nach, was sonst gar nicht meine Art ist. Der Fisch, wie wir ihn zu Hause essen, ist lecker, doch gegen dieses köstliche Ragout oder den Braten kommt er nicht an. Sogar die Sieger, die sicherlich des Öfteren so eine Mahlzeit genießen, beladen sich die Teller reichlich.

Schließlich bricht Cece das Schweigen und versucht bemüht, eine Unterhaltung in die Gänge zu bekommen. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die keine Lust darauf hat, denn die Sieger geben vor, mit ihrem Essen beschäftigt zu sein, während Cece zwanghaft Bemerkungen über die »spektakuläre Ernte«, den »herzzerreißenden Abschied« oder die »fabulösen Kleider« macht. Sie bedenkt einfach alles mit einem sorgsam gewählten Adjektiv.
Die Antworten auf ihre Fragen fallen allerdings nur spärlich aus, selbst Odair, der sonst so gerne im Rampenlicht steht, hält sich zurück.

»Das sieht ja aus wie deine Frisur, Cece.«
Wir sind beim dritten Gang angelangt, als Pon diese kleine Bemerkung fallen lässt, harmlos und lieb lächelnd. Vor uns steht ein merkwürdig gewachsenes Gemüse, das unbestreitbare Ähnlichkeit mit den wilden Ringellocken auf dem Kopf unserer Betreuerin hat.

Krampfhaft bemühe ich mich, nicht zu lachen, doch es will sich nicht zurückhalten lassen. Alle aus Distrikt vier brechen in Gelächter aus, selbst die Mentoren, die bis eben mit düsteren Mienen in ihrem Essen stocherten. Die Einzige, die dies weniger amüsant findet, ist Cece, aber sie lässt sich nichts anmerken und lächelt uns schmallippig an. Pon wirft sie dennoch ein verzücktes Grinsen zu, ihm nimmt sie die Bemerkung scheinbar nicht übel. Was nicht verwunderlich ist, denn er grinst unschuldig und wird etwas rot um die Nase. Ihm scheint aufzugehen, wie peinlich ihr das Gelächter ist.

Danach ist das Eis gebrochen und langsam kommen wir mit den Mentoren ins Gespräch, zu Ceces sichtlicher Freude. Wir reden über Belangloses aus unserem Distrikt, wie die Sanierung des Piers oder das Kleid der Bürgermeisterfrau bei dieser Ernte. Nur die Hungerspiele wagt niemand anzusprechen, genauso wenig wie das Geschehen der kommenden Tage. Es ist, als würde all dies gar nicht existieren. Viel mehr fühlt sich an wie alte Freunde, die entspannt beim Abendessen zusammensitzen.

Irgendwann gesellt sich auch Amber zu uns und lässt sich ein wenig von der Stimmung anstecken, was ich der muskulösen Frau ehrlich gesagt gar nicht zugetraut hätte. Doch sie lächelt Floogs und Trexler an und erzählt mit gesenkter Stimme sogar einige Anekdoten von lustigen Zwischenfällen im Kapitol, die meist auf Kosten von Cece gehen.

Alle beobachten gerade Pon, wie er versucht ein Röschen des Cece-Lockengemüses mit einer Gabel ans andere Ende des Tisches in ein Glas zu befördern, als ich mich satt sowie einigermaßen zufrieden zurücklehne. Es ist schon spät, aber wenigstens haben wir für diesen einen Moment die Hungerspiele vergessen.

Pon scheint der geborene Entertainer zu sein, denn trotz des trüben Anlasses spielt er vergnügt mit dem Gemüse, im Übrigen ein Verhalten, dass daheim niemals geduldet werden würde. Er schafft es, dass alle Spaß an dem Gabelschleuderspiel finden, so absurd das klingen mag. Innerhalb kürzester Zeit hat er sogar die sonst so griesgrämige Amber für sich eingenommen.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt