19 | Sternstunde

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Zurück im Appartement wartet bereits der nächste Anschlag auf mich – das Vorbereitungsteam samt Roan, die letzte Anpassung an meinem Interviewkleid vornehmen wollen. Immerhin ist es übermorgen schon so weit.
Amber und Mags sind ebenfalls anwesend. Erstere, um sich über die Kapitoler und ihre Geschmacksverirrungen zu amüsieren, Letztere, um meine Hand zu tätscheln und mir zu erzählen, dass ich wunderhübsch bin. Ein Kompliment, das seit Finnicks Offenbarung einen bitteren Nachgeschmack hat.

Roans Kleid ist erstaunlich schlicht. Der dicke Stoff changiert in Grün- und Blautönen, vom Saum aufwärts immer heller; von der Tiefsee bis zur von Sonnenstrahlen berührten Meeresoberfläche. Mysteriös wie die Geheimnisse der See behauptet der Stylist. Trotz allen Pathos hinter diesem Design ist es wirklich schön. Ärmellos, nur mit kleinen Schlaufen an den Oberarmen, unspektakulärem Herzausschnitt und einem ausgestellten Rock, der nach unten hin immer weiter wird. Definitiv weniger Verkleidung als bei der Wagenparade.

Die Herausforderung stellen die Schuhe da. Ein Paar mörderischer Dinger mit einem Absatz, bei dem es mir schwindlig wird. Als wenn die Höhe nicht reicht, sind die Sohlen rutschig, meine Zehen schmerzen, weil vorne kaum Platz bleibt, und es ist schlichtweg grässlich. Unter den Anfeuerungsrufen des Vorbereitungsteams mache ich den ersten Schritt – und präsentiere prompt einen Sturz.

Meine Wangen werden heiß, doch niemand außer Amber lacht oder schimpft gar. Stattdessen streckt sich eine Hand in mein Blickfeld – Finnicks. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er das Zimmer betreten hat. Seine Mundwinkel zucken kaum merklich, aber seine Stimme ist weich, als er spricht.
»Darf ich Ihnen aufhelfen, holde Meerjungfrau? Mich dünkt, Sie sind mit dem menschlichen Schuhwerk noch nicht vertraut.«

Angesichts dieser hoffnungslosen Übertreibung bricht ein Kichern aus mir hervor. »Und ich dachte schon, das hier wären gar keine Schuhe, sondern Folterwerkzeuge! Wie ungeschickt von mir!« Mit gespielter Arroganz lege ich die Hand in seine und lasse mich hochziehen.
»Immer schön kleine Schritte machen und nicht zu sehr über die Hacke abrollen«, raunt mein Retter in der Not mir mit einem Zwinkern zu. »So viel hat mich das Zusehen gelehrt.«

Anerkennend ziehe ich eine Augenbraue hoch. Nützliche Tipps in Sachen High Heels von Finnick Odair, wer hätte das gedacht?
»Wir können ja wetten, wer von uns bis zu den Interviews besser darin ist, auf diesen mörderischen Dingern zu laufen«, fordere ich ihn heraus. »So als kleine Motivation, damit ich nicht doch auf platter Flosse bei Caesar Flickerman auflaufe.«

»Oho!« Finnick grinst. »Da bin ich aber gespannt. Du unterschätzt meine Fähigkeiten, auf hohen Schuhen zu laufen.«
»Dann gilt es also?«
Wie zuletzt bei Schwüren im Kindesalter reicht Finnick mir seinen kleinen Finger und ich hake meinen bei ihm ein, um die Wette zu besiegeln.

Den Rest des Abends stellt sich allerdings trotz jeglicher Bemühungen kaum Erfolg bei mir ein, stattdessen stolpere ich an der Seite von Kolibrichen, die sich meiner erbarmt hat, durch das Wohnzimmer. Die Sonne ist längst untergegangen, als ich schließlich die Schuhe ausziehe und in die Ecke pfeffere.

Mit einem nachsichtigen Lächeln befreit Kolibrichen mich aus dem schweren Kleid und lässt sich von mir auf morgen vertrösten. Sie versucht es ihrerseits mit einem aufmunternden »Das schaffst du schon«. So oft, wie ich diesen Satz in den vergangenen Tagen gehört habe, hat er jegliche Bedeutung verloren.

Der Gedanke, dass morgen trotz des Aufschubs der letzte Trainingstag ist, scheucht mich aus dem Wohnzimmer und ich beschließe, etwas Frieden auf dem geheimen Balkon zu suchen. Noch einmal das Grün der Pflanzen dort einzuatmen, in der Hoffnung, dass es meine Nerven beruhigen kann.

Offenbar bin ich nicht die Einzige mit diesem Gedanken, denn als ich an die Luft trete, sitzt Finnick bereits da, die Augen geschlossen. Mein Herz macht einen Satz und mir scheint, dass es insgeheim auf diese Begegnung gehofft hat. Verrückt, wie einen der eigene Körper mit so etwas überraschen kann – dabei sollte man doch meinen, dass ich das Ruder in der Hand halte.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt