01 | Hand in Hand

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Der Geschmack von Salz liegt in der Luft am heutigen Tage, dem lang gefürchteten Tag der Ernte. Eine feuchte Wärme durchdringt alles und erwärmt den Distrikt wie einen Topf kurz vor dem Überkochen.
Unter der prallen Sonne glänzen die roten Häuserdächer der Kernstadt einem zweiten Meer gleich. In einer zarten Brise flattern die Wäscheleinen zwischen den Häusern in der Luft und die bunten Kleidungsstücke malen lustige Bilder vor dem Blau des Himmels.

Dieser Tag könnte bestimmt wunderbar werden – wenn da nicht die Ernte wäre. Aber das ist ein dunkler Gedanke, dem ich nicht nachgebe. Zumindest noch nicht. Ich wage es sogar, mir vorzustellen, dass ich diesen Tag und die damit verbundene Auswahl der Tribute unbeschadet überstehen werde.
David, mein Freund, hat es letztes Jahr geschafft, da werde ich das auch. Es ist nur noch diese eine Ernte, die mich von der ‚Freiheit' trennt. Wie stehen schon die Chancen, auserwählt zu werden? Ich habe nur einen Tesserastein beansprucht, der mir ein zusätzliches Los eingebracht hat, deshalb ist mein Name bloß acht Mal in der Lostrommel. Manch eine Vierzehnjährige hat mehr Lose als ich. Und selbst wenn es einen trifft – in unserem Distrikt gibt es immer wieder freiwillige Tribute. Dieser Gedanke beruhigt mich endgültig.

Mit dieser Gewissheit sitze ich recht entspannt auf einem alten Pflock, dessen Holz morsch von dem vielen Meerwasser ist, das einst gegen ihn geschwappt ist. Heute fließt hier allerdings kein Wasser mehr, sondern eine Salzwiese erstreckt sich über einige Meter Länge und Breite. Kraut und kleine, weiße Blümchen wachsen darauf, eine Besonderheit unseres Distriktes.
Geschickt winde ich mit meinen Fingern eine Schlaufe in den Stiel einer dieser Salzblumen und ziehe sie fest. Ein weiteres Glied in dem Blumenkranz, den ich flechte, ist fertig.

Andere winden Knoten in dicke Taue oder knüpfen Netze, ich mache das Gleiche mit Blumen. Für die üblichen Freizeitbeschäftigungen in Distrikt vier konnte ich mich noch nie begeistern. Ich helfe meinem Vater natürlich nach der Schule auf unserem Boot, aber in der Freizeit muss ich nicht mehr Netze reparieren als ohnehin schon.

Und nicht nur das. Das Meiste, was meine Altersgenossen trainieren, gefällt mir nicht. Sie gehen in die Trainingsakademie, in der sie nicht nur lernen, die Kunst der Knoten für Fallen zu gebrauchen, sondern sich auch im Werfen von Speeren, Schießen von Pfeilen und dem Ringen ausbilden lassen. Kurzum, sie üben das Waffenhandwerk für die Arena, in der Hoffnung, in die Hungerspiele einzuziehen und dort Ruhm zu erlangen.

Mit Blumenkränzen werde ich es wohl nie zu Ehre oder Geld bringen, aber es erscheint mir sicherer, als mein Leben leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Ich bin zufrieden damit, eine Fischerin zu sein, schließlich habe ich von einem der Besten gelernt – meinem Vater.
Außerdem steht schon länger fest, dass ich nach dieser Ernte heiraten werde. Für keinen Preis der Welt würde ich das in Gefahr bringen. Niemals könnte ich David alleine lassen, ihm meinen Verlust zumuten. Es reicht, jedes Jahr die Eltern derer zu sehen, die ihre Kinder in den Hungerspielen verloren haben.

Ich habe keine Illusionen mehr. Die Spiele sind hart, blutig und grausam. Doch diesen ungünstigen Gedanken schiebe ich jetzt beiseite, denn David kommt über die Salzwiese auf mich zu.
Er trägt seine beste Hose, zusammen mit einem schneeweißen, neuen Hemd. Das muss er sich extra für den feierlichen Anlass gekauft haben. Von weitem strahlt mir bereits sein Lächeln entgegen und steckt mich an. Freudig lasse ich die Hände mit dem unvollständigen Kranz sinken.

Endlich bei mir angekommen legt er seine Arme um meine Taille. »Guten Morgen Sonnenschein«, sagt er vergnügt.
Ich kichere etwas verlegen und antworte: »Alter Schmeichler.«
Nach einem zarten Kuss auf die Wange ergreift er meine Hände und für einen Augenblick sehen wir uns fest in die Augen. Seine sind, typisch für Distrikt vier, von tiefem Blau mit einigen kleinen Sprenkeln in einer undefinierbaren Farbe. Ich kenne diesen Anblick in- und auswendig, so oft habe ich seit unserer gemeinsamen Kindheit in sie geschaut, aber der Blick aus diesen Augen beruhigt meine wirbelnden Gedanken stets. So wie jetzt.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt