05 | Das Lied der Meerjungfrau

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Ich bleibe unschlüssig auf der Couch sitzen, während die anderen in ihre Abteile zurückkehren. Alle, bis auf einen. Ausgerechnet Finnick Odair bleibt gemeinsam mit mir in dem nur noch von Dämmerlicht beleuchteten Raum.
Er lässt nicht, wie erwartet, einen Spruch vom Stapel, sondern beobachtet mich schweigend. Der Versuch, ihn zu ignorieren, misslingt. Ich habe keine Erklärung dafür, warum mich sein stummer Blick so verrückt macht. Vielleicht weil er überlegen könnte, ob ich in seine Ansammlung von Liebesbekanntschaften passe?

Das kann ich definitiv verneinen. Immerhin bin ich keine billige Dame des Kapitols, die sich wild kichernd an seinen Hals hängt, sondern ein Tribut, auf dem Weg zum Schafott – und folglich nicht im mindesten an einer Affäre interessiert.
Ich kratze meinen ganzen Mut zusammen und drehe mich zu ihm um. »Was ist?«, zische ich. Es soll vorwurfsvoll klingen, doch das tatsächlich Gesprochene klingt wehleidig.

Es scheint ihn nicht im Geringsten zu kümmern, er zuckt nur mit den Schultern. »Ich frage mich bloß, was in dir vorgeht, kleine Meerjungfrau.«
Wenn ich könnte, würde ich jetzt gerne eine Augenbraue hochziehen. Woher nimmt er diese Dreistigkeit mir einfach solche Kosenamen an den Kopf zu werfen? Aus seinem Mund klingt es falsch und unecht. Doch anstelle ihm ordentlich Konter zu geben, gewinnt meine Schüchternheit die Oberhand und ich erröte, wie schon beim Essen.

»Sieh mich bloß nicht so an«, bringe ich hervor. Odair lacht leise. »Und nenn mich nicht so!«, setze ich erzürnt von seiner Frechheit hinzu.
Das scheint sein Stichwort zu sein und er steht auf und geht hinüber zur Tür. Kurz bevor er aus dem Abteil verschwindet, dreht er sich noch einmal um und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Seine Mundwinkel zucken leicht, als würde er grinsen wollen, aber dann seufzt er nur und schließt für einen Moment die Augen. Täusche ich mich, oder liegt Wehmütigkeit in seinen Zügen?

»Gute Nacht ... störrisches Fischmädchen.« Jetzt breiten seine Lippen sich doch zu einem Lächeln aus und einmal mehr erröte ich.
So eine Unverschämtheit! Ich schüttele den Kopf. Was immer sein Problem ist, er ist die Gedanken nicht wert. Lieber stehe ich auf und gehe zurück in mein Abteil.

Dort lasse ich Kleidung fallen und stelle mich unter die unglaublich geräumige Dusche. Zwar hatten wir zuhause einen Waschhahn, doch gegen all die verschiedenen Programme, die diese Duschkabine bietet, erscheint er mir lachhaft. Es scheint Optionen zu geben, die einem die Haare waschen und trocknen, eine Enthaarung vornehmen oder mysteriöse Öle anwenden. Zumindest glaube ich, das den kleinen Abbildungen neben den Knöpfen entnehmen zu können. Wahllos drücke ich eine der vielen bunten Tasten und bereue es kurz darauf wieder. Abwechselnd prasseln heißes und kaltes Wasser auf mich herab.

Ich zucke bei jedem eisigen Strahl zusammen und die siedenden Ströme verbrühen einen beinahe, doch sobald das Programm endlich durchgelaufen ist und ich mit rosa glänzender Haut aus der Dusche taumle, geht es mir besser. Ich ziehe eines der vielen Nachthemden aus der Kommode und sinke in das riesige, weiche Bett. Als ich mich auf die Seite rolle, denke ich fest daran, wie sich dieser ganze Irrtum sicher rasch auflöst. Wenn ich aufwache, sind wir wieder in Distrikt vier.

In meinen Träumen stehe ich auf einer Salzwiese. In der Nähe wogt das Meer. In den Händen halte ich einen Blumenkranz, den ich David zeigen will. Vorfreude breitet sich in mir aus. Wir haben uns immer hier getroffen, nicht weit vom Hafen entfernt. Möwen kreischen. Die Geräusche der Heimat haben etwas Beruhigendes, ich entspanne mich.

In der Ferne taucht eine unscharfe Gestalt auf. Langsam nähert sie sich mir. Ich will ihr freudig entgegenlaufen, doch plötzlich reißt der Nebel auf, der sie umgibt. Statt David steht Odair vor mir und ruft lachend »Hallo Fischmädchen!«. An dieser Stelle schrecke ich aus meinem Traum auf – und bin natürlich nicht in Distrikt vier. Über mir hängt derselbe perlenbehangene Kronleuchter wie schon beim Einschlafen. Ich bin immer noch im Zug Richtung Kapitol.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt