13 | Purpurea

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Die Trainingshalle ist ein unangenehmer Ort. Es braucht nicht lange, bis ich das herausfinde. Da wir uns im Keller befinden ist es kälter als in den oberen, sonnendurchfluteten Stockwerken. Die Wände reichen weit in die Höhe und sind mit Metall verkleidet, sodass ich mich an das Erneuerungscenter erinnert fühle. Einige Meter über dem Boden hängt ein Kletternetz und auf der gesamten Fläche sind die verschiedensten Trainingsstationen verteilt. Ständer mit Schwertern, Speeren und bedrohlich funkelnden Messern warten auf uns.

Die Tribute aus Eins und Zwei haben sich bereits zusammengefunden und verfolgen die Ankunft von Pon und mir mit abschätzigen Blicken. Aus Richtung der ärmeren Distrikte schlägt uns Angst entgegen. Augen werden hastig abgewendet, wohin ich auch sehe. Der Ruf des Karrieredistrikts eilt uns voraus, obwohl wir bisher nichts getan haben, um diesen Eindruck zu festigen.

Unschlüssig stehen wir einen Moment in der Tür, ehe Shine, das blonde Mädchen aus Eins, sich erbarmt und zu uns schlendert. Aus der Nähe betrachtet ist sie noch hübscher als im Fernsehen. Trotz ihrer achtzehn Jahre lässt ihr herzförmiges Gesicht mit der Stupsnase sie jünger – gar niedlich – wirken. Ihr Blick gleitet von den Zehenspitzen bis zu meinem Haaransatz, dann breiten sich ihre Lippen zu einem Lächeln in bester Caesar-Flickerman-Manier aus.

»Zeigt heute, was ihr drauf habt, wenn ihr bei uns mitmachen wollt. Auch wenn's für dich schwer wird, Kleiner.« Sie zuckt mit den Schultern und wickelt eine Locke um ihren Zeigefinger. »Sorry, aber du bist halt erst Zwölf.«
Anstatt eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich auf dem Absatz um und schreitet zu ihren Verbündeten zurück.

Nach einem Augenblick der Erstarrung folgen Pon und ich ihr in die Halle zu dem Ring aus wartenden Tributen. Lange dauert es nicht, bis die Letzten zu uns stoßen, und eine gestählte Frau in weißer Friedenswächteruniform das Training offiziell eröffnet. Im Gegensatz zu den Bewohnern des Kapitols trägt sie keinerlei Make-Up. Was sich vermutlich damit erklären lässt, dass das überwiegende Gros der Soldaten aus Distrikt Zwei stammt und dort ausgebildet wird. Diese Frau begleitet also jedes Jahr Leute aus ihrer eigenen Heimat in den Tod.
»Hoffen wir auf eine ertragreiche Trainingswoche«, beendet sie ihren Vortrag über die Regeln – im Prinzip nur ‚nicht gegeneinander kämpfen' und ‚niemanden verletzen'. »Die Stationen sind jetzt für euch eröffnet.«

Die Karrieretribute werfen uns einen vielsagenden Blick zu und verziehen sich in Richtung der Schwertkampfstation. Pon zögert kurz, dann läuft er in kleinen Schritten zu einer Bogenstation. Über die Schulter sieht er mich fragend an, doch ich schüttle nur den Kopf. An einem Bündnis habe ich kein Interesse, also gilt es auch niemanden zu beeindrucken. So wäre mir das Erwachen mit einem Messer in der Brust garantiert. Ganz zu schweigen davon, dass ich keinerlei bestehende Kampftalente habe. Das wird Shine schon früh genug bemerken und dann bin ich Fischfutter in ihren Augen. Oder was immer man in Distrikt Eins dazu sagt.

In der Ecke finde ich eine unscheinbare Station, abgeschirmt von den meisten Blicken, und beschließe kurzerhand, dort anzufangen, bis ich einen besseren Überblick habe. Zwischen lauter Pflanzen hockt ein kleiner Mann, der mich anstrahlt, sobald ich näher komme. »Schön, dass mir mal jemand aus Distrikt Vier Besuch abstattet! Die meisten deiner Distriktgenossen sind nicht sonderlich erpicht darauf, Giftpflanzen zu studieren.« Mit vollem Elan schiebt er verschiedene Töpfe mit Grünzeug in meine Richtung.

In den nächsten Stunden lerne ich, anhand der Blätter auf die Genießbarkeit von Pflanzen zu schließen, wie man Vergiftungen behandelt und Gifte einsetzt, um anderen zu schaden. Als kleine Prüfung sortiere ich einige Gewächse den Kategorien ‚unbedenklich', ‚sofort tödlich' und ‚schleichend tödlich' zu. Zufrieden sehe ich auf mein Werk hinab und will dem Trainer Bescheid geben, da hockt sich jemand neben mir hin und schüttelt langsam den Kopf.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt