11 | Strategie

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Das Abendessen verläuft – wie erwartet – nicht sonderlich ereignisreich. Cece versucht, ein fröhliches Gespräch am Laufen zu erhalten, doch die Einzigen, die darauf eingehen, sind die Stylisten, die anscheinend ebenfalls in unserem Appartement ein- und ausgehen dürfen. Ich verfolge ihr Gequassel lediglich mit einem Ohr, da es sich auf die teuren, aber hässlichen Kleider der anderen Tribute und Eskorten beschränkt.

Mit dem nächsten Gang geht die Unterhaltung über zu einem neuen Trend, bei dem man sich tierische Gesichtsmerkmale implantieren lässt. Roan ist natürlich gut informiert mit seinen Kiemen – die im Übrigen funktionslos sind, wie er langatmig erklärt. Überraschenderweise hält Cece nichts von dem Trend und winkt nur ab, als der Vorwurf laut wird, sie solle ein wenig Solidarität mit ‚ihrem' Distrikt zeigen.
»Nein danke, ich war einmal am Hafen. Fische sind wirklich eklig, ganz zu Schweigen von dem Gestank! Damit will ich nicht assoziiert werden.«

Ich schmunzle. Niemand daheim würde unsere Lebensgrundlage je so abwerten. Wenn wir nicht das Meer hätten, würde es uns ähnlich elend ergehen wie den Bewohnern von Distrikt elf oder zwölf. Zum Glück sind viele Leute aus dem Kapitol ganz wild auf unseren Fisch und insbesondere die Meeresfrüchte. Aber die meisten haben vermutlich keine Ahnung, wie die Nahrung zu ihnen kommt. Für sie existiert nur das, was sie von uns in kleinen tiefgefrorenen Blöcken geliefert bekommen.
Cece jedenfalls scheint ziemlich angewidert von der Wirklichkeit, so wie sie ihre Lippen schürzt. Mit einem Blick auf das Wildfleisch auf meinem Teller fällt mir auf, dass ich selber auch nie einen Hirsch in freier Wildbahn gesehen habe. Wie sieht es wohl in Distrikt zehn aus, wo das Fleisch verarbeitet wird? Fühlt sich das Vieh dort genauso schlecht wie ich heute Morgen im Erneuerungscenter?

Meine Überlegungen werden von Ceces durchdringender Stimme erstickt. »Also, ihr Lieben! Wir haben uns hier ja nicht nur zum Essen versammelt, sondern auch, um für unsere beiden wunderbaren Tribute die richtige Strategie zu finden!« Sie lächelt breit in die Runde. »Ich selber habe natürlich unendlich viele Ideen«, fährt sie – für meinen Geschmack zu selbstgefällig – fort, »aber jeder von uns sollte die Chance haben, etwas beizutragen!«

In den folgenden Momenten offenbart sich für mich, warum Mags bereits vor dieser offiziellen Zusammenkunft zu mir gekommen ist. Jeder der Stylisten hat nämlich eine wunderbare und gänzlich schockierende Idee parat, um es einmal mit Ceces Worten auszudrücken. Ich nenne es lieber gequirlten Fischmist.

Keiner der Vorschläge ist auch nur ansatzweise hilfreich oder umsetzbar. Pons Stylistin schlägt beispielsweise vor, dass man mich ja als junge Mutter präsentieren könnte, wo ich doch ein so gutes Verhältnis zu Pon habe. Woher sie plötzlich ein Kind nehmen will, ist mir schleierhaft, genauso wie diese Behauptung die Sponsoren begeistern soll. Aber ich begreife, dass die Bewohner des Kapitols gänzlich anders denken. Vielleicht ist es ja gerade im Trend eine junge, mordende Mutter zu sein.
Zum Glück widersetzt Cece sich diesem Vorschlag. Unsere Mentoren hingegen halten sich überwiegend aus dem Durcheinander heraus, aber ich ahne, dass das ebenfalls eine Strategie ist. Zumindest Mags, Floogs und sogar Finnick haben bewiesen, dass wir ihnen nicht egal sind.

Als die Ideen der Stylisten schließlich immer lustloser werden, sieht Cece hoffnungsvoll zu den Siegern herüber. »Jetzt haben wir ja viele wunderbare Vorschläge gesammelt, aber von euch haben wir noch nichts gehört. Ihr habt doch sicher auch sehr viele Ideen für die zwei?« Fragend zieht sie ihre pinkgefärbten Augenbrauen in die Höhe.
In aller Ruhe legt Mags ihre Gabel nieder, wischt sich den Mund an der Serviette ab und lächelt der Eskorte dann zu. »Meine Liebe, ich glaube, unsere Tribute brauchen keine derartig ... unkonventionellen Strategien. Wir haben uns bereits zusammengesetzt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir es einfach halten.«

Ceces Augenbrauen verschwinden in ihrer künstlichen Haarpracht. »Was heißt das, ‚einfach halten'?«
»So, wie sie sich bis jetzt präsentiert haben, haben sie schon ein Image. Wir bauen es lediglich aus«, mischt sich Floogs ein.
Ich bin überrascht, dass sie anscheinend die Zeit gefunden haben, an unserer Strategie zu arbeiten, da Mags und Finnick mir erst vorhin ganz unterschiedliche Sachen geraten haben.
»Um es kurz zu fassen: Annie bleibt die zurückhaltende Schönheit, während Pon unser aller Sonnenschein ist«, beendet Amber sarkastisch wie immer die Diskussion.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt