15 | Der Himmel im vierten Stock

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Zum zweiten Mal an diesem Tag betrete ich die riesige Trainingshalle, um mein erstes Mentorentraining mit Floogs und Amber zu absolvieren. Mags ist als Einzige nicht dabei, sondern oben bei Cece im Appartement geblieben. Der Grund wird schnell klar – alle unsere Mentoren tragen Sportkleidung und stehen in einem Halbkreis zwischen den Kampfstationen.

Amber empfängt mich mit einem Kopfnicken. »Dann wollen wir mal sehen, ob diese Meerjungfrau auch Zähne hat«, sagt sie ungerührt und bedeutet mir, ihr zu folgen.
Wir landen bei den Matten von der Ringkampfstation, die in einem großen Viereck in den Boden eingelassen sind. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass Pon indessen einen Speer hält und von Finnick in seiner Haltung korrigiert wird. Floogs legt eine Hand auf meinen Oberarm und weist mit einem Kopfnicken zu den Matten.

»Keine Sorge, Annie. Wir bekommen das hin. Auch wenn Amber nicht den Eindruck macht, wir haben uns einen sanften Einstieg überlegt.«
»Ja, dem Namen nach«, spöttelt Amber, doch auf Floogs finsteren Blick hin tritt sie mit erhobenen Armen zurück und überlässt ihm die Matte.

»Stell dich einfach in die Mitte«, weist Floogs mich an. »Entspann dich. Keine störenden Gedanken, lass einfach alle Muskeln los. Ich weiß, das ist schwer, aber versuch es. Bevor wir an Waffen denken, ist es ratsam, den eigenen Körper zu verstehen.«
»Und wenn du am Füllhorn keine Waffe bekommst, gehst du wenigstens nicht gleich drauf, solange du auch ohne kämpfen kannst«, ergänzt Amber.

Floogs seufzt. »Das auch. Annie, du weißt vielleicht, dass ich nur mit einem Messer bewaffnet die Hungerspiele gewonnen habe. Dazu hat das, was wir dir beibringen wollen, maßgeblich beigetragen. Was auch Amber im Übrigen erst lernen musste.« Er zwinkert mir zu. »Das kannst du auch. Schließ die Augen.«

Ich tue wie geheißen. War mein Atem immer schon so laut? Was macht Pon gerade? Von weiter hinten höre ich Waffenklirren. Das Bild des traurigen Finnicks schiebt sich in die Gedanken, gefolgt von meiner Familie, David. Sein anklagender Blick ist nicht zu ertragen. Vorsichtig hebe ich ein Lid, um mich in der Halle umzusehen.

Dabei habe ich die Rechnung ohne Amber gemacht. Sie steht keinen halben Meter vor mir, die Arme verschränkt und starrt mich an. Als sie meinen Blick auffängt, schaut sie zur Digitaluhr hoch oben an der Wand und seufzt.
»Wo bist du, Annie?«
»Äh ... in der Trainingshalle?«
»Wie spät ist es?«
»Abend –« Ich will ebenfalls zur Uhr sehen, doch Ambers Zungenschnalzen hält mich davon ab.
»Wer bist du?«
»Annie Cresta ... weiblicher Tribut aus Distrikt Vier.«

Amber tritt zurück, keine Regung auf dem Gesicht zu erkennen. »Konzentriere dich auf den Moment, nicht deine überflüssigen Gedanken. Alles, was zählt, ist der konkrete Augenblick. Du bist hier, du bist jetzt, du bist der Moment.«
Bevor ich meiner Verwirrung Ausdruck verleihen kann, humpelt Floogs wieder auf die Matten. »Das, was wir dir beibringen werden, ist eine uralte Kampfkunst, die aus einem der verlorenen Länder jenseits des Meers stammt«, erklärt er. »Das schriftliche Wissen darüber ist mit den Jahren verloren gegangen, doch einer unserer früheren Sieger – Brandon – hat mich vor seinem Tod einiges davon gelehrt, wie seine Eltern ihm zuvor. In der Arena gibt es sicherlich keinen zweiten Tribut, der dieses Training bekommt, also pass auf, Annie.«

Er zieht mich am Handgelenk zur Seite und wir überlassen die Matte Amber. Sie holt tief Luft, geht leicht in die Knie und schiebt ihre Füße hüftbreit auseinander. Ihr Blick ruht auf einem Punkt weit in der Ferne, womöglich nicht in dieser Halle. Die Fäuste hält sie an ihrer Seite und dann geht alles furchtbar schnell. Ein Schrei, ein Schlag, ein Schritt vorwärts. Die Luft zischt, als Amber sie mit rasanten, präzisen Bewegungen schneidet. Fast wirkt es wie ein Tanz, in dem ihre Choreografie aus Fausthieben und Tritten zusammenschmilzt. Plötzlich ist es auch schon wieder vorbei, Amber steht in derselben Position wie zuvor da, die Augen geschlossen. Nur ihre Brust hebt und senkt sich von der Anstrengung. Ich kann nicht anders – Bewunderung breitet sich in mir aus.

Meeresflüstern | Annie Cresta ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt