Der Muskelkater meines Lebens setzt am Morgen nach dem Training ein, an dem es eigentlich ein vielversprechender und schöner Tag zu werden scheint. Die Sonne strahlt und der stetige Schneefall hat ein wenig abgeklungen.
Trotzdessen ist es super kalt und schon beim Frühstück graut es mir davor gleich wieder auf die Skipiste zu gehen, von der ich weiß, dass ich es wahrscheinlich keine zwei Minuten aushalten werde, weil meine Beine am liebsten jetzt schon den Geist aufgeben würden.
Mit einem Seitenblick auf Kaylie und Bayley stelle ich fest, dass es beiden anscheinend nicht besser geht als mir, denn auch sie hängen in der für sie gemütlichsten Position auf ihrem Stuhl rum, aber auf keinen Fall in einer normalen Sitzposition, wie man sie sonst hätte.
„Kannst du mir mal die Milch geben?", frage ich an Bud gerichtet und versuche mit der größten meiner Anstrengungen meinen Arm hochzuhalten und in seine Richtung auszustrecken. Das Brennen und innerliche Schreien meines Armes versuche ich gekonnt zu unterdrücken.
Grinsend hält Bud die Milchtüte über meine Hand, weil er genau weiß, dass ich diese keinen weiteren Millimeter nach oben heben kann, ohne, dass mir der Arm dann unter dem Gewicht der Milch runterknickt.
Meine Augenbraue schnellt nach oben und ich presse meine Lippen aufeinander, während ich versuche die Milchtüte zu erreichen.
Niemand am Tisch sagt etwas, nur das leise Kichern von Rye und Isa ist zu vernehmen, welche die gestrige Aktion ja nicht einmal mitbekommen haben. Freche Kinder.
„Bud", knurre ich zwischen meinen Zähnen hindurch, „gib mir sofort die Milch."
„Bring mich doch dazu", sagt er und hält sie noch ein Stückchen höher, damit ich mich weit nach oben strecken muss.
Unter Anstrengung aller meiner Kräfte, spanne ich meinen Bauch an und drücke mich mit der linken Hand von der kühlen Tischplatte ab, um mich aufzurichten und dann nach der Milch in seiner Hand zu greifen.
„Beim nächsten Mal trete ich dir zwischen die Beine, dann kniest du dich ganz schnell hin", sage ich boshaft und sehe dabei zu, wie er seine schmalen Lippen auseinanderzieht und zu einen O formt, „und sei froh, dass unsere Eltern beim Einkaufen sind, das wäre nicht so schön für dich geendet, wenn dir deine Mutter eine Standpauke über Anstand gehalten hätte."
Prustend hält sich Ryker die Hand vor den Mund und versucht dabei den großen Schluck Wasser den er gerade trinken wollte davor zu retten wieder aus seinem Mund zu schießen. Mit Mühe und Not hält er es zurück, auch wenn die Kohlensäure ihn wahrscheinlich schon in der Nase kitzelt.
„Was ist denn hier los?", wird die gesamte Runde von Matty unterbrochen, der mit zwei Packen Klopapier in der Tür steht, die schweren Stiefel noch voller Schnee und die Wangen vom kalten Wind gerötet.
Sofort drückt Bud mir die Milch in die Hand und trotz der Tatsache, dass er schon über 22 Jahre alt ist, setzt er sich wortlos hin und spitzt seinen Mund leicht an, als müsste er sich gleich sofort verteidigen, wenn ich ihn verpetze.
Mit einer angehobenen Augenbraue und einem leicht spöttischen Lächeln auf dem Mundwinkel, ziehe ich meine dunkelblaue Tasse ein Stückchen näher an mich heran und schenke mir ein.
Noch immer sagt niemand ein Wort, was ein wenig komisch ist, wenn man bedenkt, dass sonst immer einer redet. Nur das Klackern meines Kakaopulverlöffels an den Seiten meiner Tasse ist zu hören.
„Habt ihr mir was mitgebracht?", fragt Isa und springt von ihrem Stuhl auf, um in den Einkäufen, die unsere Eltern nach und nach hineinschleppen nachzusehen.
Eigentlich will ich lachen, doch der Muskelkater in meinem Bauch macht das ganze wieder zu nichte. Tief atme ich durch die Zähne ein und halte meine Hand auf den Bauch, damit weder Matty, Helen, Dad oder Mom sehen, dass wir von heimlichen Nachhilfetraining auf dem Eis ganz schöne Muskelschmerzen haben.
„Nicht nur für dich", sagt Helen und legt ihrer kleinen Tochter die Hand auf die Schulter, „deeeenn, wir haben Weihnachtsdeko gekauft", trällert sie und hält einen gigantischen Adventskranz in die Luft, der wahrscheinlich an die Haustür kommen soll.
Mein Vater wirft Matty einen verzweifelten Blick zu, als meine Mutter und Helen abwechselnd und mit großer Begeisterung ihre erstandenen Weihnachtsdekorationen aus den Einkaufstaschen ziehen und sie uns präsentieren.
Ich wende mich wieder meiner Kakaotasse zu. So sehr ich Weihnachten auch liebe, und die Weihnachtsstimmung in diesem Haus sowieso schon sehr weit unten ist, habe ich heute tatsächlich gar keine Lust auf irgendwelchen Leitern zu stehen und meine schmerzenden Arme in die Luft zu halten.
-
Rykers Hand taucht direkt vor meinem Gesicht auf. „Nächstes bitte", sagt er betont freundlich, weswegen ich ihm am liebsten den Tannenzweig, den ich in der Hand halte, ihm zwischen seine weißen Zähne schieben würde.
Stumm presse ich meine Lippen aufeinander und reiche ihm den nächsten grünen Tannenzweig, den er mit einem roten Band um das gesamte Geländer befestigt. Dabei ist es ihm sichtlich eine Freude, die gestrige Tortur durch stetiges aufheben und hochreichen fortzuführen und sich dabei über mich lustig zu machen.
Auch wenn ich heute anscheinend extra reizbar bin, kann ich absolut nicht nachvollziehen, was daran so lustig sein soll. „Hör auf damit", zische ich, als er schon wieder einen Tannenzweig fallen lässt, sich die Hand vor den Mund hält und ein affektiertes „Oops", von sich gibt.
„Mom?", rufe ich über meine Schulter nach hinten, „kann ich dir noch woanders helfen?"
Noch 9 Tage bis Weihnachten.
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Silent Sparkle - Adventskalender 2021
RomanceEndlich ist Dezember. Die entspannteste Zeit des Jahres, findet Alory - jedenfalls hätte es so sein können, wenn ihr Vater nicht seinen alten Schulfreund wieder getroffen hätte, und sie jetzt die restlichen Adventswochen mit diesem im familieneigene...