6. Dezember

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Mitten in der Nacht, beziehungsweise gegen sechs Uhr morgens werde ich von einem Schütteln an der Schulter aufgeweckt. Es fällt mir schwer meine Augen zu öffnen, denn leider habe ich den gestrigen Abend damit verbracht mir unnötige Videos anzuschauen, die absolut keinen Mehrwert für mich haben, mich aber stundenlang davon abhalten zu schlafen.

„Was ist los?", brummele ich und sehe durch meine zusammengekniffenen Augen in das Gesicht meiner Mutter, die fast genau über mir hängt.

Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. „Der Nikolaus war da", sagt sie ganz sanft und ich fühle mich fast wieder wie das kleine Mädchen, dass die halbe Nacht nicht schlafen konnte, weil zu ihr der Nikolaus kam, aber zu den anderen aus ihrem Freundeskreis nicht.

Ich reflektiere ihr Lächeln und schäle mich unter den mehreren Lagen von Bettdecken hervor. Sofort wird mein Körper in kalte Luft gehüllt, da ich am Abend vergessen hatte meine Fenster zu schließen. Ein Schauer läuft meinen Rücken herunter und ich schüttele mich, bevor ich die untere meiner Decken schnappe und sie mir über den schwarzen Satinpyjama lege.

„Gibst du mir mal bitte die Socken?" Mit dem rechten Zeigefinger zeige ich auf die dicksten Socken in meinem Schrank, der auch von gestern, noch halb offen steht. Vielleicht sollte ich so langsam wieder damit anfangen, Ordnung in mein Leben zu bringen. Oder wenigstens Ordnung in meinen Kleiderschrank.

Mit lautem Gestampfe höre ich Kaylie durch den Flur rennen. „Aaaaaal, komm schon, ich will meinen Stiefel sehen", ruft sie für mich eine Spur zu laut und kommt auf mich zugerast, nur um mich beim Arm zu packen und hinter sich her zu der Treppe zu ziehen, auf welcher wir gestern Abend noch unsere frisch geputzten Stiefel platziert hatten.

„Morgen", vernehme ich von einer noch verschlafeneren Bayley, die, halb geschoben von unserem Vater, aus ihrem Zimmer schlurft. Noch bis spät in die Nacht habe ich sie mit ihrem neuen Freund sprechen hören, weshalb mir selbst das Schlafen auch nicht wirklich einfach viel. Nicht, dass ich etwas gegen Geräusche hätte, ehrlich gesagt hasse ich sowieso Stille, aber dieses ständige Gekicher und dann das stundenlange „Nein, du legst auf", ist anstrengend.

Ein Grinsen legt sich auf mein Gesicht. „Guten Morgeeeen, na, gut geschlafen?"

„Können wir dann jetzt?", fragt Kaylie ungeduldig und packt Bayley an der anderen Hand, was sie ohne sich zu sträuben, geschehen lässt.

Schnellen Schrittes zieht sie uns zu unserer dunklen Holztreppe, welche schon in das warm weiße Licht der Lampe getaucht ist. Darauf stehen, wie erwartet unsere Stiefel und aus allen quillt eine Menge an Süßigkeiten und Obst. Die Wunschzettel, die wir auch immer am fünften Dezember alle gemeinsam schreiben, sind auch verschwunden. Tief atme ich ein und kann mir das glückliche Lächeln nicht verkneifen. Ich liebe die Vorweihnachtszeit.

„Wartet", schreit meine Mutter auf und rennt mit ihrem Handy in der Hand, an uns vorbei, die Treppen hinunter. Sogar Bayley grinst, denn wir alle wissen, dass wir jetzt erst einmal fünf Minuten Bilder machen müssen, welche dann an all unsere Verwandten in Deutschland verschickt werden, die sich jedes Jahr darüber freuen, dass mein Vater die Tradition weiterleben lässt.

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„Alory, Kaylie", schreit Bayley laut auf und kommt mit ihrem Laptop im Arm zu uns ins Bad gerannt, wo Kaylie sich gerade die Zähne putzt und ich mit den Händen und dem Gesicht voller Schaum, halb unter dem Wasserhahn hänge.

„Was?", schreit Kaylie zurück und legt ihren Kopf in den Nacken, damit ihr die Zahnpasta nicht aus dem Mund läuft.

Leicht außer Atem tippt sie die ganze Zeit auf den Bildschirm und rutscht fast mit ihren kniehohen Socken auf den Fliesen aus. „Ihr werdet es nicht glauben. Wir bekommen Schneefrei."

Sofort lasse ich den Wasserhahn, Wasserhahn sein und drehe mich trotz des restlichen Schaumes im Gesicht zu ihr um. „Aaaah", jauchze ich und springe leicht hoch. „Und wie lange?"

„Das ist ja das Beste. Auf jeden Fall bis Weihnachten. Die ganzen Meteorologen sind sich sicher, dass es weiter so schneien wird. Wir werden also dieses Jahr nicht mehr in die Schule gehen", fällt sie in meinen Jubel mit ein und auch Kylie ist so begeistert, dass wir dieses Jahr nicht mehr in die Schule gehen müssen, dass wir alle nur noch hüpfend durch das Badezimmer hüpfen.

„Wie ich merke habt ihr die gute Nachricht schon vernommen", kommt die Stimme unseres Vaters aus Richtung der Tür, durch welche er seinen Kopf gesteckt hat. Sein brauner Pullover mit den Rentieren, welchen er trägt, obwohl ihm wirklich jeder sagt, dass er absolut hässlig ist, schlabbert leicht an ihm herunter. Offensichtlich kommt er gerade von draußen, wo er unseren Hof hatte freischaufeln wollen.

Wie im Takt nicken wir und schreien laut durcheinander, bis er auf seine Hand zeigt, in der sein Handy liegt, mit welchem er offensichtlich einen Anruf tätigt.

„Matty hat es mir gerade gesagt. Er und Helen haben sich überlegt, dass wir am besten morgen schon fahren sollten, bevor wir sonst gar nicht mehr zu der Hütte kommen."

Mir vergeht die Lust nach Hüpfen. „Morgen schon?"

„Ja morgen schon. Und bevor ihr euch jetzt alle wieder in eure Zimmer verzieht, wollte ich euch nur mitteilen, dass ihr direkt mal damit anfangen könnt, eure dreckige Wäsche rauszuholen, denn heute werden wir den ganzen Tag Wäsche waschen, bevor ihr wieder rummeckert, dass ihr nichts zum Anziehen habt."

Schweigen legt sich über uns Kinder und mit der Freude, die wir gerade noch verspürten, kommt die Erkenntnis, dass wir uns jetzt noch länger mit der Familie Brodyn rumschlagen können, und uns Vater heute die ganze Zeit damit auf die Nerven gehen wird, wie toll das doch wird, obwohl er uns die ganze Zeit damit stressen wird, dass wir das Haus auch aufgeräumt verlassen müssen, weil er es hasst, wenn er zurückkommt und dann die doppelte Arbeit hat.

Dass wir anderen auch beim Aufräumen helfen, vergisst er dabei manchmal sehr gekonnt.

Ein Lachen ertönt von der anderen Seite des Telefons und Mattys Stimme dringt zu uns. „Jetzt lass die Kinder doch erst mal die frohe Nachricht verarbeiten, Timbo. Ich freu mich schon euch wiederzusehen Leute", ruft er noch, bevor mein Vater ihn wieder an sein Ohr hält.

„Wir uns auch", rufen wir im Einklang zurück und es ist nicht einmal gelogen. Matty war schon immer wie ein Onkel oder und ich bin mir sicher, dass schon jede einzelne meiner Schwestern heimlich in ihn verliebt gewesen ist.

Mit acht Jahren war ich einmal vor der Schule von meinem Fahrrad gefallen, mir beide Knie zerschlug und zu verängstigt war wieder nach Hause zu gehen, da die neue Hose, welche meine Mutter mir gekauft hatte, in Fetzen war. Weinend hatte ich Matty aus dem Schulsekretariat angerufen, der mich sofort abholen kam, auf den Arm nahm und mit zu Helen nach Hause brachte. Beide trösteten mich und bügelten dann coole Aufbügelflicken über die Löcher, nachdem Helen auf beide Knie ein großes Pflaster geklebt hatte.

Noch heute wurde es viel zu oft erwähnt, obwohl es schon so viele Jahre her ist.

Leicht verzweifelt sehen meine Schwestern und ich uns gegenseitig an, und ich merke wie der Schaum auf meinem Gesicht langsam anfängt zu trocknen, was er definitiv nicht soll.

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„Wo ist mein glitzernder Pullover, Alory", schreit Bayley und hämmert laut gegen meine Tür, hinter der ich auf dem Boden sitze, um diese zuzuhalten.

Der Haufen Kleidung, der vor mir liegt, sieht nicht so aus, als würde er sich heute noch irgendwo hinbewegen und der große Koffer, welcher daneben steht, ist noch immer leer.

„Woher soll ich das wissen?", schreie ich zurück und muss all meine Kraft aufbringen, dass sie meine Tür nicht aufstemmt, um meine Unordnung nur noch zu verschlimmern, indem sie all meine Sachen durchwühlt.

Mit einem Blick nach draußen wird mir klar, dass sich die Situation bis morgen wahrscheinlich nicht auf wundersame Weise verbessern wird und der Schnee, über den ich mich vorher so gefreut hatte, mir jetzt einen Strich durch all die Pläne macht, die ich hatte.

Stattdessen kann ich die ganzen Tage mit Ryker Brodyn verbringen, was mir die aufgebaute Weihnachtsfreude wahrscheinlich wieder rauben wird.



Noch 18 Tage bis Weihnachten.

Silent Sparkle - Adventskalender 2021Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt