Kapitel Sechsunddreissig: Verdrängen

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Vor 5 Jahren

Die dumpfen Geräusche reißen mich aus meinem Schlaf, der gefühlt viel zu kurz war. Genervt stöhne ich in das Kissen und versuche alles um mich herum auszublenden. Seit drei Tagen bin ich in meinem Zimmer, habe mich krankschreiben lassen und tue nichts.

Meine Familie versucht mich auf andere Gedanken zu bringen, reden immer wieder auf mich ein, jedoch habe ich mich von meinem Verstand verabschiedet und ignoriere sie dabei. Ich weiß, dass ich sie damit verletze, aber ich kann nicht anders. Mein Herz schmerzt viel zu sehr, als dass ich mich um andere Gedanken machen kann.

Ist das egoistisch von mir?

Ich weiß es nicht, ist mir jedoch in diesem Moment egal, weil es mir wichtiger ist auf mich selbst zu achten, auch wenn es den Anschein hat, dass ich mich aufgegeben habe. Aber ich brauchte nur eine kleine Auszeit von der Welt, die ich in diesen drei Tagen genommen habe.

Die Gespräche von draußen dringen zu mir durch, lassen mich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mir sie anhöre. Sie sorgen sich um mich, was nicht überraschend ist und doch kann ich sie nicht mehr hören. Vielleicht sollte ich ihnen zeigen, dass es mir besser geht, obwohl das nicht der Fall ist. Aber so könnte ich ihnen einen Teil der Sorgen nehmen, die sie gegenüber mir haben und das wäre ein Versuch wert.

Ein Vorteil wäre dabei auch, dass sie mich in Ruhe lassen werden. Ich könnte endlich für mich sein, ohne dass jemand die ganze Zeit bei mir ist.

Entschlossen stehe ich vom Bett auf, nehme mir frische Klamotten aus dem Schrank und gehe ins Badezimmer. In meiner Zeit des Rückzugs habe ich alles gemieden, da ich nur in meinem Bett liegen wollte, um in den Schlaf zu entfliehen.

Der Schlaf ist das einzige, das mir kein innerliches Brennen verursacht, weil ich mich in meinen Träumen verstecken kann. Sie zeigen mir die Welt, wie sie vor einigen Tagen noch war. Jedes Mal schleicht er sich ungefragt in meine Illusion, lächelt mich verschmitzt an und sagt, wie sehr er mich liebt. Er ist bei mir, hält mich in seinen Armen und flüstert mir immer wieder süße Dinge ins Ohr, die mich leicht rot werden lassen.

Doch sobald ich wieder in die Realität katapultiert werde, ist er weg und mein Herz blutet nur noch mehr als sonst schon. Eigentlich ist es eher kontraproduktiv ihn in meinen Träumen sehen zu wollen, jedoch kann ich nicht anders, da ich ihn schrecklich vermisse und mir dabei viel Gedanken um ihn mache, weil ich nicht weiß, wo er ist.

Er hat mir nicht gesagt, wohin er geht. Nicht in meinem Brief und auch nicht in dem von Ella. Seine Nachricht an sie habe ich nicht gelesen, aber dafür hab ich sie gefragt, was sie mit einem traurigen Blick verneint hat.

Nachdem ich frisch geduscht aus dem Badezimmer komme, gehe ich nach unten in die Küche. Ein Kaffee würde mir sicher guttun, bevor ich das Haus verlasse, um ein wenig am Fluss spazieren zu gehen.

„Guten Morgen“, trällere ich gespielt fröhlich und überrasche damit meine Familie.

Verdutzt blicken mich drei Augenpaare an. Sie sind wahrlich schockiert von meiner Erscheinung, weswegen ich innerlich die Augen verdrehe. Mein Dad ist der erste, der sich davon erholt.

„Guten Morgen, Sonnenschein. Du siehst heute gut aus“, begrüßt er mich und deutet dabei auf meine frisch geduschte Erscheinung. Wie hab ich denn nur diese drei Tage ausgesehen?

Ein gekünsteltes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, das sehr überzeugend wirkt. Entweder sind sie einfach nur froh mich zu sehen, sodass sie es nicht merken oder sie sind blind. Denn ich konnte noch nie gut meine Gefühle verbergen.

„Danke, Dad. Ich fühl mich auch schon besser. Da es so ein sonniger Tag ist, hab ich mir gedacht, ich verbringe den Nachmittag am Fluss. Wir sehen uns dann später“, verabschiede ich mich und schnappe mir noch den Apfel, bevor ich mich aus dem Staub mache.

Meine Mutter und Ella sind gar nicht zu Wort gekommen, so schnell bin ich wieder vor ihnen geflüchtet, aber ich konnte Erleichterung in den Augen meiner Mutter erkennen. Den Blicken meiner kleinen Schwester bin ich ausgewichen, weil sie mich sofort durchschaut hätte. In solchen Momenten verfluche ich unsere innere Verbundenheit, da ich vor ihr nichts verheimlichen kann.

Als ich durch unser Städtchen spaziere, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Jede Ecke dieser Stadt erinnert mich an ihn. Wie er mich überall hin getragen hat, ob Huckepack oder sogar auf den Schultern. Wir haben jeden Scheiß zusammen erlebt und wenn ich jetzt darüber nachdenke, dass es vorbei ist, bilden sich Tränen in meinen Augen, die ich krampfhaft versuche zu verdrängen.

Verfluchst, seist du! Wieso kannst er nicht aus meinem Kopf verschwinden und mich in Ruhe lassen? Eigentlich sollte es so leicht sein, ihn aus meinem Herzen zu verbannen, so wie er mich verlassen hat. Aber es geht nicht. So sehr ich es versuche, bleibt er immer präsent.

Seufzend lasse ich mich auf der Wiese vor dem Fluss fallen. Sehe dem Wasser zu, wie es hinabfließt und höre den Vögeln zu. Dieser Platz ist wunderschön, ruhig und perfekt geeignet um seine Gedanken zu sortieren.

Ich gehe nochmals alles durch, was in den letzten Tagen vorgefallen ist. Vielleicht habe ich irgendwas verpasst, dass mir einen kleinen Hinweis darauf geben könnte. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht. Er hat seine Gefühle wieder einmal vor mir verschlossen und mich außen vor gelassen.

Eigentlich sollte ich wütend auf ihn sein, ihn verfluchen und anschnauzen, wenn er wieder kommen sollte. Aber ich will nur wissen, ob es ihm gut geht. Er muss wohlauf und glücklich sein. Denn auch wenn er mich verlassen hat, so wünsche ich ihm nur das Beste.

„Hier steckst du also.“ Lewis setzt sich neben mich, den Blick auf das Wasser gerichtet. Er sagt kein Wort, sondern ist einfach da, bei mir und gibt mir seine stille Unterstützung, die sich gut anfühlt. Nicht nur ich habe ihn verloren, sondern auch er. Sie waren gute Freunde, wenn nicht so etwas wie Brüder.

„Ich vermisse ihn“, flüstere ich ihm leise zu.

„Ich auch, Haylee.“

Ich lehne meinen Kopf an seiner Schulter und so verharren wir eine Weile.

„Er hat mir einen Brief hinterlassen“, beginnt er zögerlich. Mein Körper verkrampft sich und ich schließe meine Augen.

„Weißt du, wohin er ist?“

„Er ist zur Army, Haylee.“

Erstarrt bleibe ich sitzen, geschockt von seinen Worten und ohne dass ich es aufhalten kann, fließen die Tränen meine Wange runter. Wie konnte er zur Army gehen? Weiß er nicht, was für Sorgen ich mir dabei machen werde? Er könnte verletzt werden.

Erkenntnis blitzt in mir auf, weshalb ich unkontrolliert zu schluchzen beginnen.

Er ist weg und kommt nicht wieder. Und mit ihm auch mein Plan, alles zu verdrängen.

Lewis mein Freund.

Es tut mir leid, dass du es durch einen Brief erfahren musst. Aber ich habe beschlossen, der Army beizutreten. Hails weiß es noch nicht und ich wäre dir dankbar, wenn es so bleiben würde. Sie würde sich viel zu viele Sorgen um mich machen und das will ich ihr ersparen.

Pass auf sie auf und sei ein guter Freund für sie, wie du meiner bist. Sie wird deinen Trost brauchen. Es soll ihr an nichts fehlen. Schau bitte darauf.

Ich danke dir und bis bald.

Hunter James

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