𝑈𝑁𝑂

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Jorge,
wenn du diese Zeilen liest, werde ich wohl woanders sein – an einem Ort, den du dir in diesem Moment noch nicht vorstellen kannst.
Dann wirst du mein ganzes Geld eingeheimst haben – du Dieb!
Nun lach schon, ich weiß ganz genau, dass dir gerade nicht danach ist, aber bitte, tu es!
Sieh nach vorne, nutze unseren Gewinn sinnvoll… nein, sinnvoll ist es nicht, mit deinen Freunden in den nächstbesten Luxusurlaub zu fliegen und Reya bei Abuelo abzusetzen!
Ich weiß, es ist gerade schwer für dich.
Nach all den Verlusten, die unsere Familie schon durchmachen musste.
Ich möchte nur, dass dir eines klar ist: Mir ist bewusst, welches Risiko ich eingehe, indem ich an diesem Überfall teilnehme.
Dass ich dabei draufgehen kann oder für mein restliches Leben im Knast landen könnte.
Aber ich übernehme die volle Verantwortung dafür – für alles.
Suche die Schuld nicht bei Sergio, dem Professor, ich habe aus freien Stücken seinem Angebot zugestimmt.
Und sorg dafür, dass meine Beerdigung unvergesslich wird. Ich möchte eine würdige Verabschiedung haben – auch wenn ich dich kenne und du genau jetzt deine Augen verdrehen wirst, sieh diesen Brief als eine Art Vertrag, dass ich mit Mozarts Requiem zu Grabe getragen werden möchte.

Ich liebe Reya und dich von ganzem Herzen, vergiss das nie!
Candela

PS: Wisch dir die verdammten Tränen aus den Augenwinkeln, du weißt, wie sehr ich es hasse, dich leiden zu sehen!“

Schniefend presste ich dieses Stück Papier an meine Brust, während ich mit schweren Schritten die Gasse durchquerte, die die vielen Menschen auf der Plaza Mayor gebildet hatten.

Sie alle waren gekommen, um sich von ihren gefallenen Helden zu verabschieden.
Von Oslo, Moskau, Bruxelles und Berlin.

In dieser Reihenfolge waren sie von uns gegangen und so geordnet sollte ihnen die letzte Ehre erwiesen werden .
Begleitet von Mozarts Requiem in d-Moll, aufgeführt durch das Spanische Nationalorchester – genau wie meine Cousine es gewünscht hatte.

Bruxelles.
Das war sie für die breite Masse.

Candela, so wie ich sie kannte. Meine Ersatzschwester und teilweise Ersatzmama für Reya, meine neunjährige Tochter , nachdem ihre leibliche Mutter nichts mehr mit uns zu tun haben wollte.
Eines Tages war sie ohne ein Wort des Abschieds verschwunden und nie wieder zurückgekommen – ich wusste nicht, wie es ihr ging, wo sie lebte… ob sie überhaupt noch lebte.

Mit Reya hatte ich, sobald sie alt genug dafür gewesen war, alles offen kommuniziert – und mit Candela an unserer Seite hatte sie auch nie wirklich jemanden vermisst.
Doch jetzt stand meine wunderschöne, unschuldige Tochter mit ihrem Uropa in erster Reihe und musste sich von ihrer Großtante verabschieden. Das war es, was mir noch mehr wehtat als der Verlust an sich.

Als Vater stand für dich das Wohl deines Kindes an erster Stelle. Du würdest alles dafür tun, damit es ihm gut ging, dich selbst opfern und sogar morden.

Nur dass ich in diesem Fall vollkommen hilflos war.
Dieser Mensch, der für den Tod meiner Cousine verantwortlich war, konnte nicht mehr bestraft werden – war er auch selbst nicht mehr am Leben.
Doch auch wenn dem nicht so wäre, Rache hätte nichts bewirkt. Nichts hätte Candela zurückholen können.

All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich neben Martín und einigen schwarzen Bildschirmen, auf denen nach und nach die Angehörigen der Verstorbenen zugeschaltet werden würden, etwas seitlich des Orchesters stand und mich mental auf meine Abschiedsrede vorbereitete.

Zwei Wochen zuvor, Donnerstag.

Ich drehte am Rad.
Irgendetwas war hier faul.
Der Überfall auf Spaniens Banknotendruckerei war gestern zu einem Ende gekommen und noch immer hatte ich nichts von meiner Cousine gehört.
Sie hatte versprochen mich zu kontaktieren, sobald sie in Sicherheit waren – und das dauerte definitiv zu lange.

𝘽𝙚𝙡𝙡𝙖 𝘾𝙞𝙖𝙤 - 𝙐𝙣𝙖 𝙏𝙧𝙖𝙙𝙞𝙘𝙞𝙤́𝙣 𝙁𝙖𝙢𝙞𝙡𝙞𝙖𝙧 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt