𝐶𝐴𝑇𝑂𝑅𝐶𝐸

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„Denver“, entsetzt packte ich ihn am Ärmel, doch er schüttelte mich nur verärgert ab.
„Lass mich!“

Hieß ‚Lass mich‘ in diesem Fall wirklich, dass er seine Ruhe haben wollte oder dass ich ihm trotzdem folgen sollte?
Diese verdammte Scheiße mit dem Einfühlungsvermögen!

„Stockholm?“, Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie sich zu mir drehte – und da wusste ich: egal, wie schlecht es Denver in diesem Moment ging, sie fühlte sich noch deutlich elender und sie würde auch meine Hilfe nicht ablehnen.

„Weißt du, was? Ich werde Matías Bescheid geben, dass er sich noch um ein paar Geiseln mehr kümmern soll und du wartest währenddessen hier. Du brauchst ein wenig Ruhe, etwas Zeit, um alles zu verarbeiten und dich ein bisschen zu entspannen. Ich bin gleich bei dir, ja?“, nachdem ich ihr ein schwaches Nicken als Antwort abgenommen hatte, schnappte ich mir die Geiseln und brachte sie nach unten zu unserem Komplizen in die Eingangshalle.

Auf dem Weg wieder zurück in das Büro des Gobernadors schossen mir die unterschiedlichsten Bedenken durch den Kopf: Was, wenn Tokios und Rios Trennung genauso wie die von Denver und Stockholm uns den ganzen Plan vermiesen würden, nur weil sie ihre persönlichen Gefühle nicht unter Kontrolle hatten? Oder wenn ich mich zu viel um alle sorgte, mich dadurch in den zwecklosesten Situationen überarbeitete und dann im richtigen Augenblick nicht mehr meine wichtigen Aufgaben erfüllen konnte? Und – das stand über allem – was sollte ich tun, wäre das ganze Blutabnehmen umsonst gewesen, wäre ein Paar unnötigerweise aneinandergeraten und Nairobi würde trotz allem nicht überleben?!

Ganz ruhig, dreh nicht durch, du schaffst das!

Immer und immer wieder redete ich mir diese Worte ein, so auch in dem Moment, in dem ich zu Stockholm zurück in das Zimmer des Chefs der Bank kam.
Schwach lächelte sie mich von einem Sofa aus an und deutete mit ihrer Hand neben sich.

Als ich sie so vor mir sah, verstand ich, was das Sprichwort ‚Gegensätze ziehen sich an‘ bedeutete: Denver mit seiner impulsiven, unberechenbaren Art, der nur selten den Ernst der Lage verstand und immer versuchte, alles mit seinen Sprüchen aufzulockern, und im Gegensatz dazu Stockholm, die bewusst und reflektiert handelte, manchmal einfach jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte, und zum richtigen Zeitpunkt auch einmal leise blieb.

Stumm nahm ich sie in den Arm, während ich mich neben sie setzte, und drückte sie fest an mich.
Ich war niemand, der in solchen Situationen immer die richtigen Worte fand, eher von der Art, jemandem ‚körperlich‘ zu zeigen, dass er nicht allein war, sondern sich auf dich verlassen konnte.

„Warum?“, das war das Einzige, was Stockholm an meine Schulter schluchzte.

„Hör mal… wir werden das gemeinsam durchstehen, ich werde dir bei allem helfen, was es auch sein wird, ja?“, ich glaubte nicht, dass das pädagogisch, psychologisch oder sonst wie gesehen die sinnvollste Methode war, die ich da gewählt hatte, aber mit den Problemen anderer konfrontiert zu werden, löste in mir ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit aus – und daher war diese Reaktion die einzige, die ich mir über all die letzten Jahre aufgebaut hatte, die man so gut wie immer verwenden konnte und die nicht der vollkommene Reinfall war…

„Ich erkenne ihn nicht wieder! Er hat sich so verändert und ich weiß nicht, wann und wie es dazu gekommen ist – vielleicht löst Arturos Anblick so viele Erinnerungen in ihm an den ersten Überfall aus, dass er es einfach nicht ertragen kann, das Gesicht einer Geisel zu sehen, das er automatisch mit der Zeit mit seinem Vater oder auch seiner… seiner besten Freundin verbindet, oder es ist etwas komplett anderes. Aber ich kann das nicht. Er ist so aggressiv, ich… ich habe ein bisschen Angst vor ihm. Ich kann ihn doch so nie wieder in die Nähe unseres Sohnes lassen!“, verzweifelt lehnte sie sich ein Stück nach hinten und raufte sich die Haare.

„Hey…“, bestimmt schüttelte ich meinen Kopf.
„Ich habe doch gesehen, wie sehr er Cincinnati liebt, wie er mit ihm umgeht – er würde ihm nie etwas antun. Du und euer Sohn, ihr seid die einzige Familie, die Denver noch hat. Pass auf, das, was ich jetzt sagen werde, tue ich nicht, um ihn in Schutz zu nehmen, sondern weil es das ist, was mir jeder andere hier auch bestätigen würde. Er liebt dich so sehr, dass er es einfach nicht erträgt, dich in der Nähe eines Mannes zu wissen, der nicht er selbst ist. Vor allem nicht, wenn dieser Kerl dein Exlover ist. Das, was ihn zu diesen Ausrastern bewegt, ist keine ungesunde, kranke Eifersucht, sondern die Furcht, noch jemanden zu verlieren, der ihm so wichtig ist. Hör zu, ich kann verstehen, dass dich diese aggressive Seite an ihm erschrickt, dir eine wahnsinnige Angst einjagt, und auch, dass du erstmal ein wenig Abstand zu ihm brauchst. Aber du darfst nicht die negativen Eigenschaften überhandnehmen lassen, verstehst du das? Du wirst dich doch sicher nicht ohne Grund in ihn verliebt haben, oder?“, entschlossen griff ich nach ihrer Hand und drückte sie kurz fest.

„Naja, weißt du… er hat mich vor dem sicheren Tod bewahrt, indem er mir ins Bein geschossen hat“, bei diesen Worten entfuhr Stockholm ein Geräusch, von dem ich nicht wusste, ob es ein Prusten oder Weinen war.

„Er hat für mich getanzt, mich im Tresorraum besucht, damit ich mich nicht einsam fühlte, und mich ganz einfach zum Lachen gebracht“, ein wehmütiges Lächeln zierte ihr Gesicht, wo sie doch nun über Denvers und ihre Kennenlernphase sprach – und ich musste mir eingestehen, sie so glücklich darüber reden zu hören, wärmte und brach mir mein Herz gleichzeitig.
Die beiden hatten so viel Besseres verdient als den Schmerz, den sie gerade durchstehen mussten!

Stunden später, in denen Stockholm und ich uns gegenseitig unser Leid geklagt hatten, gemeinsam gelacht und geweint hatten, betrat ich wieder die Lobby.
In der ich vor Schock beinahe die Treppe herunterfiel.
WAS war denn nun schon wieder passiert?!

Martín war mit Eisenketten an einen Stuhl gefesselt und anscheinend endgültig durchgedreht: Lauthals grölte er irgendwelche volkstümlichen Lieder über die Freiheit durch die Gegend und trieb damit Rio, der momentan hier Schicht hatte, in den Wahnsinn.

„Scheiße, Tokio! Kannst du mir mal sagen, was das jetzt soll?! Wieso um alles in der Welt habt ihr Palermo zur Geisel gemacht?!“, es hatte eine Weile gedauert, bis ich meine Freundin in einem der Gänge gefunden hatte und erbost mit dem konfrontierte, was ich gerade gesehen hatte.

„Der Idiot wollte uns alle verraten, Athen. Der hat irgendwelche Minen im Eingangsbereich positioniert und war bereit, jeden von uns in die Luft zu jagen. Was hätte ich denn machen sollen? Ich bin eine deutlich bessere Anführerin als der Psychopath und ich halte mich an das, was der Professor uns aufträgt“, rechtfertigte sie sich angespannt und lenkte mich in eines der Büros, in dem wir unseren Tequila gebunkert hielten.

„Trink mal was, du musst dich einfach ein bisschen entspannen“, auffordernd hielt sie mir ein Glas entgegen, doch ich dachte nicht einmal im Traum daran, es ihr abzunehmen.

„Nein danke. Ich trinke erst wieder, wenn hier EINMAL etwas nach Plan verläuft. Bist du denn komplett durchgeknallt?! Damit hast du einen Staatsstreich angezettelt! Natürlich ist es absolut nicht vertretbar, dass Palermo sich so feige verziehen wollte, und er muss bestraft werden, ja, aber doch nicht so! Tokio, du kennst ihn nicht! Er ist unberechenbar. Wenn du ihm so kommst, lässt er sich direkt etwas einfallen, das dich noch tiefer ins Verderben stürzt!“

Mit diesen weisen Worten Athens verabschiede ich mich auch schon wieder bis Sonntag - es gibt nämlich nicht viel zu sagen [außer, dass ich bei Tokios Argumentation, sie halte sich immerhin an die Regeln, und Jorges erbostem Durch-die-Gänge-Stürmen gerne als Zeugin dabei gewesen wäre...]!

Bleibt gesund und lasst euch in den aktuellen Zeiten nicht unterkriegen <3!

𝘽𝙚𝙡𝙡𝙖 𝘾𝙞𝙖𝙤 - 𝙐𝙣𝙖 𝙏𝙧𝙖𝙙𝙞𝙘𝙞𝙤́𝙣 𝙁𝙖𝙢𝙞𝙡𝙞𝙖𝙧 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt