Die Stunden vergingen langsam und schleppend, still und trüb. Estel saß auf einem kahlen Baumstumpf inmitten der tiefen des Waldes nur von zwei Pferden begleitet, während er in Gedanken weit abschweifte. Er erinnerte sich der letzten Tage und ging die Geschehnisse wieder und wieder in seinem Kopf durch. Es war besser so als sich eine mögliche Zukunft auszumalen, da sie ihm zumeist unverblümt und grausam erschien und seine Pläne immer seltsamer und unmöglicher wurden. Also akzeptierte er sein Schicksal warten zu müssen und erfreute sich seines gebrochenen Zehs, der ihn daran verhinderte aus unerklärlichen Gründen – die sich in seinem Fall Tatendrang nannten – doch noch aufzubrechen und etwas Halsbrecherisches zu unternehmen.
Mit einem Mal wurde die Stille von einem lauten und hohen Schrei gebrochen, sofort warf der Waldläufer alles beiseite und zog so schnell wie möglich sein Schwert.
„Wer ist da?" Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Stelle, die er als Versteck auserkoren hatte, möglicherweise etwas zu weit im Dunkeln des Waldes lag, denn zwar saß er auf einer helleren Lichtung, doch das Land um ihn herum lag im Dunkeln. Was für Gefahren konnten hier noch lauern? Orks? Oder etwas noch Schlimmeres? Er drehte seinen Kopf in alle Richtungen und lauschte in die wieder eingekehrte Stille, doch erkennen, wer oder was da kam, konnte er nicht. Es war totenstill und selbst die natürlichen Laute des Waldes, die ihn zuvor noch beschallten, waren verklungen. Plötzlich hörte er ein dumpfes Geräusch, wie Hufe, die auf bloße Erde und Gras trafen. Der Schrei wiederholte sich, nur das er noch lauter war und endlich konnte der junge Mensch erkennen, wer da schrie.
„Menelas!" Der stolze Vogel landete auf seiner Schulter und stierte direkt in den Wald, an die Stelle aus der noch immer das Hufgetrappel – wenn es dann welches war – hallte. Auch er hob den Blick auf den schmalen Waldweg und konnte kurz darauf einige Schattengestalten durch das Dickicht donnern sehen. Hufe hoben und senkten sich in einem regelmäßigen Takt und verkündeten das Herannahen einer ganzen Schar. Wie viele, vermochte der junge Waldläufer nicht zu erraten. Doch wusste er nun – oder er hoffte es zumindest zu wissen – dass die Reiter ihm freundlich gesinnt waren. Denn der Vogel hatte sie erbklickt und verkündete keine Gefahr.
Endlich konnte er ein großes Tier mit einem gewaltigen Geweih ausmachen, das mit dem starken und stolzen Haupt durch das Grün brach und sich seinen Weg bahnte. Es war faszinierend anzusehen, zumal er nie zuvor einen berittenen Hirsch gesehen hatte. Denn auf dem Rücken saß niemand geringeres als der hohe Herr des Waldes, dessen majestätisch erhobener Kopf mit der Krone Eryn Galens geschmückt war. Anmutig und leichthändig lenkte er das Tier weiter auf die Lichtung hinaus und ließ Platz für etliche Pferde, die alle von Soldaten in schimmernder Rüstung besessen waren.
„Mae govannen, Estel!" Bis auf den ruhigen Klang der Stimme, das Rauschen im Blätterdach und das Zwitschern einiger Vögel lag der Wald wieder völlig still da.
„Mae govannen, hir nin." Estel nickte dem König zaghaft zu, um ihm seinen Respekt zu erweisen, woraufhin dieser kurz den Kopf senkte. In einer geschickten Bewegung schwang er sich von seinem kupferbraunen Hirsch und überließ ihn sich selbst, wobei dieses für das edle Tier bedeutete, von einem der gülden gekleideten Wächter flankiert zu werden, bis sein Herr zurückkehrte. Der König selbst schritt ruhig über die Lichtung, immerzu in Richtung des jungen Menschen. Sein Gesicht erschuf einen Ausdruck andauernder Stärke und Gefasstheit, doch seine Augen sangen ein anderes Lied. Sie waren wie tiefe Seen aus kristallklarem Wasser, sie sprachen von Trauer und Leid, von Herzschmerz und Verlust, von Sehnsucht und Einsamkeit. Und so geschah es, dass Estel die Ankunft des Königs und Vaters nicht mehr fürchtete, sondern Mitleid empfand. Ihn überkam der Drang, die melancholische Hülle eines Körpers zu umfassen um ihm Trost in der dunklen Stunde zu spenden, zumindest ein kleines Hoffnungslicht zu entfachen. Doch war er ein geringerer und erwartete nicht, dass der Ellon es gutheißen würde.
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Verlorenes Licht
FanfictionDie drei Imladris- Brüder Elladan, Elrohir und Estel begeben sich auf eine Reise in das östliche Rhovanion. Auf ihrem Weg durch den Düsterwald geht jedoch einiges schief, weshalb sich der Königssohn und der Waldläufer auf eine Rettungsmission begebe...