52 | Halbfinale

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Halbfinale. Jetzt wo ich aufgewacht bin und realisiert habe, dass ich heute ein Halbfinale spiele, bekomme ich eine Gänsehaut. Irgendwie fühlt sich das besonders an. Heute geht es um wirklich etwas. Wenn wir gewinnen, stehen wir im Finale. Das war ein Traum. In so einem jungen Alter bei der U-20 WM im Finale zu stehen, wäre mehr als ich mir je erträumt hätte. Wenn wir verlieren, haben wir immer noch das Spiel um Platz drei. Das wäre nicht das, was wir wollen würden, jetzt wo wir so weit gekommen sind, aber wir könnten trotzdem noch eine Medaille holen. Aber darüber können wir uns erst heute Abend Gedanken machen. Erstmal müssen wir das Halbfinale spielen und England wird echt ein Brocken werden. Schließlich war auch das erste Spiel sehr umkämpft und wir konnten uns nur knapp durchsetzen. Heute wird es nicht anders werden und vor allem ich werde viel mehr in der Abwehr gefordert werden. Zu gerne würde ich Feli schreiben und sie nochmal nach Tipps fragen, aber das kann ich nicht. Unser Streit war zu heftig und ich bin nach wie vor ziemlich sauer. Das wird sich so schnell auch nicht ändern. Ich glaube, sie merkt gar nicht, wie schlecht es mir mit der Situation geht.

Ich greife mein Handy vom Nachttisch. Jule schläft noch und ich will sie nicht wecken. Allerdings kann ich auch nicht mehr nutzlos rum liegen. Während ich etwas durch Instagram schaue, bekomme ich eine Nachricht von Kathy.

Kathy: Hey, ich hab mitbekommen, was passiert ist. Tut mir total Leid für dich, aber ich hoffe, du kannst einigermaßen gut damit umgehen. Viel Erfolg für das Halbfinale nachher!!
Ich: Dankeschön! Und naja es geht so. Ich bin viel zu überfordert mit der Situation
Kathy: Oh ja, das glaube ich. Ich wüsste echt nicht, wie ich damit umgehen sollte, vor allem in dem jungen Alter. Du willst wahrscheinlich einfach nur Fußball spielen und dir keine Gedanken darüber machen. Und an Silvester hattet ihr und vor allem du ja noch ausdrücklich gesagt, dass ihr es geheim halten wollt.
Ich: Ja, das war mir auch wirklich wichtig. Mir war klar, dass sie die Medien darauf stürzen würden und so ist es auch gekommen. Ich bekomme eine Anfrage nach der anderen. Es nervt einfach nur noch
Kathy: Kann ich mir gut vorstellen. Ich soll aber auch von Feli nochmal sagen, dass es wirklich nicht mit Absicht war
Ich: Das hat sie mir auch schon gesagt, aber das ist mir ziemlich egal. Sie hätte besser aufpassen müssen.
Kathy: Ja schon, aber es ist nun Mal passiert und eigentlich wäre es besser, wenn ihr zusammenhalten würdet. Auch für sie ist es nicht einfach
Ich: Ja keine Ahnung. Ich kann mich gerade nicht darum kümmern. Sie ist nicht hier und da ist es umso schwerer, da zusammen was zu machen
Kathy: Ich will dir nichts vorwerfen, aber das ist nur eine Ausrede. Ich weiß, dass ihr gestritten habt, aber trotzdem solltet ihr wieder miteinander reden
Ich: Ja vielleicht, aber erstmal muss ich dieses Turnier hinter mich bringen
Kathy: Mach was du für richtig hältst, aber du weißt, dass ich immer hinter dir stehe und nochmal ganz viel Erfolg. Du rockst das!!
Ich: Danke Kathy :)

Wir erreichen das Stadion und alles läuft ab wie immer. Ankommen, Umziehen, Aufwärmen und die letzten Ansagen. ,,England ist stark, aber wir haben sie schon geschlagen und wir können das nochmal schaffen“, motiviert und Ariane. Mit diesen Worten gehen wir raus auf den Rasen. Wir können das schaffen. Von Anfang an merkt man beiden Teams den gegenseitigen Respekt an. Wir wissen beide von der Stärke des anderen und wovor wir gewarnt sein müssen. Dennoch haben wir etwas mehr Ballbesitz, zumindest kommt es mir so vor. Wirklich nach vorne kommen tun wir trotzdem nicht. Eigentlich schieben wir den Ball, wenn wir ihn haben, nur in der Abwehrkette hin und her. Hin und wieder lässt Sjoeke sich nach hinten fallen, aber erstmal können wir den dadurch freiwerdenden Raum nicht nutzen. Den Englanderinnen ergeht es aber kaum besser. Wir stellen bisher alles gut zu und auch ich fühle mich einigermaßen wohl auf meiner Position. Ich bin immer noch etwas unsicher, aber es wird besser. Meine Gegenspielerin ist ziemlich schnell, aber da kann ich gut dagegen halten. Normal sind Abwehrspielerinnen nicht so schnell wie Stürmerinnen, aber da ich ja eigentlich vorne auf dem Flügel stehe, habe ich diese Fähigkeit der Schnelligkeit auch. Das kann noch zu dem ein oder anderen Duell führen. Kurz vor der Halbzeitpause gelingt uns der Durchbruch. Sjoeke hat sich wieder nach hinten fallen lassen und in den freigewordenen Raum ist jetzt Mia gelaufen, der wir den Ball sofort zugespielt haben. Dadurch sind wir schon mal etwas näher am Strafraum und Mia kann durch die Englanderinnen hindurch dribbeln und dann zu Jule auf der linken Seite spielen. Diese hat Platz zum Flanken, welche von Gia per Kopf und Tor gebracht wird. Ein wunderschöner Spielzug. Genau so soll es gehen. Dann ist Pause. Ariane zeigt sich im großen und ganzen zufrieden mit uns.

Doch im weiteren Spielverlauf lassen wir immer mehr nach. Wir werden zunehmend hinten rein gedrückt und können uns oft nur noch schwer befreien. Auch ich wackele immer mehr auf meiner Position. Dann ist es passiert. Mit einem einfachen Trick ist meine Gegenspielerin an mir vorbei und jetzt bringt mir sich meine Schnelligkeit nichts mehr. Letztendlich gleicht sie aus. Mehr passiert nichts und als auch in der Verlängerung kein Tor mehr fällt, ist klar, was nun passiert. Es geht ins Elfmeterschießen.

,,Lou, ist es dann okay für dich, wenn du den letzten Elfmeter schießt?“, fragt Ariane. Ich nicke unfähig etwas zu sagen. Mein Kopf schreit, dass ich es nicht tun soll, aber wer denkt in so einer Situation schon vernünftig darüber nach. Die Engländerinnen fangen an. Man sagt ja immer, die können keine Elfmeter verwandeln, aber wer weiß, ob das auch beim Nachwuchs stimmt. Die erste trifft schon Mal, aber Jule auch. Dann verschießt die nächste Engländerin, aber auch Mia scheitert. Die nächsten Elfmeter finden alle ihren Weg ins Tor, so dass nur noch jeweils eine Schützin übrig ist. Die Engländerin legt wieder vor und Stina hält. Jetzt hängt es an mir. Wenn ich treffe, sind wir im Halbfinale. Wenn ich nicht treffe, geht es weiter. Ich habe noch nie in so einer Situation einen Elfmeter geschossen. Aber es gibt wohl immer ein erstes Mal. Ich nehme drei Schritte Anlauf und ziehe dann ab. Der Ball geht ins Tor. Sofort rennen alle auf mich zu und ich werde von Jule und Sjoeke, die zeitgleich auf mich drauf springen, zu Fall gebracht.

,,Lou, warst du bereit für die UEFA ein Interview zu geben. Die wollen gerne die Spielerin, die den entscheidenden Elfmeter verwandelt hat, interviewen“, erkundigt sich Ariane wenig später. ,,Kann ich machen“, antworte ich etwas zögerlich. ,,Wenn er dich nach deiner Geschichte fragt, dann lehn einfach ab. Ist er ein guter Reporter, hakt er nicht weiter nach“, meint Ariane. Ich nicke und gehe zum Reporter. ,,Louisa, Glückwunsch zum Sieg in einem schnellen Spiel. Wie reflektieren Sie dieses Spiel?“, beginnt er. ,,Dankeschön. Ich glaube, man kann das Spiel als ziemlich durchwachsen beschreiben. In der ersten Halbzeit haben wir schon gut gespielt und auch das Tor nach einer schöner Kombination erzielt. Dann sind wir aber immer mehr eingebrochen und haben durch einen individuellen Fehler dann das Gegentor kassiert. Das Elfmeterschießen war dann ziemlich nervenraubend, aber ich bin gerade einfach nur erleichtert, dass wir es geschafft haben“, antworte ich. ,,Was geht einem da so durch den Kopf?“, hakt er nach. Die Standardfrage schlecht hin. ,,Schwer zu beschreiben. Für mich war das jetzt das erste Mal, dass ich in so einer Situation war. Da war vor allem sehr viel Nervosität vorhanden und man steht natürlich auch unter Adrenalin. Als ich gefragt worden bin, ob es für mich okay ist dann den letzten Elfmeter zu schießen, habe ich erstmal gar nicht darüber nachgedacht und einfach zugesagt. Viele wollten nicht schießen und dann kann man selbst kaum noch nein sagen. Trotzdem macht man sich natürlich Gedanken, ob man das wirklich schafft. Letztendlich habe ich es ja ganz gut hinbekommen“, sage ich. ,,Sie haben durch ihren Elfmeter das Team ins Finale geschossen. Was geht da noch?“, fragt der Reporter. ,,Erstmal müssen wir abwarten, wer unser Gegner wird. Diesen gilt es dann natürlich zu analysieren, aber prinzipiell ist natürlich alles möglich. Wenn wir unsere Leistung bringen, dann können wir sowohl Frankreich als auch Schweden schlagen. Der Titel wär natürlich schon ein Traum und definitiv das, was wir nun erreichen wollen“, erzähle ich. ,,Es gab in den letzten Tagen viele Gerüchte und Spekulationen nach einem Instagram Post von Felicitas Rauch, dass Sie zwei Schwestern sind. Was können Sie dazu sagen?“, erkundigt er sich. ,,Aktuell kann ich nichts dazu sagen“, antworte ich. ,,Warum das nicht?“, hakt er nach. ,,Ich möchte mich einfach noch nicht dazu äußern“, sage ich. ,,Wann können wir denn eine Äußerung von Ihnen erwarten?“, versucht er es weiter. ,,Sorry, aber ich bin gerade in das Finale der U-20 WM eingezogen, da habe ich gerade Gedanken im Kopf, die wichtiger sind“, erwidere ich. ,,Dann danke für das Interview und alles gute fürs Finale“, meint er. ,,Danke“, sage ich und gehe kopfschüttelnd weg.




Mal wieder ein etwas längeres Kapitel :)

No rain - No flowersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt