10. Feuerschlangen

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Es fühlte sich alles so unreal an. Als wäre sie immer noch am Träumen, würde all die schrecklichen Dinge nochmal durchleben. Aber Dalisha war wach, befand sich in der Realität, das wusste sie. Obwohl sie es nicht richtig fassen konnte. Wenn sie so nachdachte, hatte sie die Zeit von ihrem Aufwachen in der Kapsel bis jetzt, als sie hier auf dem Boden eines Erdhügelhauses lag, irgendwie völlig benebelt wahrgenommen, obwohl sie die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein war. Wie in Watte gepackt. Ohne grosse Emotionen. Wo war die alte Dalisha hin? Die junge, kleine Dalisha, die immer so neugierig war, aber trotzdem ängstlich. Die die ganze Zeit lachte, wenn ihr etwas gefiel, und weinte, wenn ihr etwas Dummes passierte. Wo waren diese Emotionen nun? Das einzige, was Dalisha im Moment verspürte, war Hunger. Und nervtötende Müdigkeit.

Sie setzte sich langsam auf, darauf wartend, dass die Kopfschmerzen und der Schwindel wieder einsetzten, doch nichts von beidem trat ein. Nur die Lichtlein tanzten wieder vor ihren Augen, jedoch schwächer als zuvor. Sie fühlte sich viel besser, auch wenn sie manchmal plötzlich ein Stechen in der Magengegend empfand.

„Hallo?" Mit zusammen gekniffenen Augen sah sie sich um, die Dunkelheit wurde nur durch ein Feuer zerbrochen, das in der Mitte des Bodens fröhlich grün vor sich hin flackerte. Irgendwie hörte man flüsternde Stimmen, dann aber doch wieder nicht, und ein stetiges, leises Zischen erfüllte die Luft. Dalisha befreite sich von der Decke, die um sie geschlungen war, und näherte sich auf allen Vieren dem Feuer. Kurz davor setzte sie sich, streckte die Hände aus und erwartete eine wohlige Wärme, die ihre steifen Fingerspitzen ein wenig aufleben lassen würde. Doch stattdessen schien das Feuer seine Arme nach ihr auszustrecken. Kleine Flammen kamen auf sie zu, umwanden ihre Arme und ihren Körper wie kleine Würgeschlangen. Dalisha wagte sich nicht zu bewegen, wie erstarrt liess sie die grünen Flammen über ihren Körper wandern. Langsam begann sie zu Schwitzen. Die Flammen waren nicht heiss, sie fühlten sich fast schon kalt an, aber dennoch schien es, als versuchten sie krampfhaft, die blasse Haut des Mädchens zu verbrennen. Als die Feuerschlangen langsam begannen, sich um Dalishas Kopf zu bewegen, wurde es ihr zu viel. Sie sprang auf, schüttelte hektisch all ihre Gliedmassen, um das grüne Feuer abzuschütteln. Als aber nur kleine Funken davonflogen und die Flammen nicht weichen wollten, begann sie zu schreien. „Geht weg! Geht weg!!"

Dalisha nahm wahr, wie sich plötzlich ein Vorhang an der Wand bewegte und schwaches Tageslicht herein drang. Das war ihre Chance: Sie sprintete durch den entstandenen Durchgang ins Freie. Irgendwie hatte ihr eine innere Stimme zugeflüstert, dass sie das unbedingt tun solle. Und diese Stimme behielt Recht. Sobald das Tageslicht auf ihren Körper traf, verflüchtigten sich die Flammen in alle Richtungen, ergriffen die Flucht.

Zurück blieb eine zitternde Dalisha, ein paar grüne Fünkchen und ein verwundertes Wesen, dass immer noch den Vorhang aufhielt. Wie man bald darauf erkennen konnte, war es einer der beiden Krieger. Nein, Moment. Dieses Wesen sah irgendwie jünger und kleiner aus und hatte blonde Haare. Nur die Gesichtsform kam einem bekannt vor. Langsam, mit einem verlegenen Lächeln auf dem Gesicht, näherte sich Dalisha ihm. Vor ihm blieb sie stehen und kniete sich nieder. Während dieser ganzen Aktion hatte er sich nicht ein Stück bewegt, er stand immer noch mit grossen Augen da und hielt den Vorhang mit seiner Hand offen.

„Hei du", begann Dalisha vorsichtig. Sie empfand das Gefühl, als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen, das seine Mutter nicht mehr fand und jeden Moment in Tränen ausbrechen könnte.

Jedoch reagierte ihr Gegenüber nicht. Nur sein Blick wanderte kurz von Dalishas Gesicht zu ihren Händen, die sie auf ihren Knien abstützte, dann wieder zurück. Irgendwie fordernd blickte er das kniende Mädchen an.

„Willst du mir etwas sagen?" Dalisha gab nicht auf. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Blick irgendwas bedeutet hatte.

Wieder wurden ihre Hände kurz mit unschuldig hellblauen Augen fixiert. Zögernd hob sie also daraufhin die linke Hand in die Luft. Der Junge reagierte blitzschnell; er ergriff die Hand und begann zu laufen. Der Vorhang wurde achtlos losgelassen. Dalisha wurde mitgezogen und stolperte fast, fing sich aber noch im letzten Moment und liess sich von dem Jungen ziehen. Er hatte erstaunlich viel Kraft, und sie musste aufpassen, dass sie sein Tempo beihielt, ansonsten wäre sie umgefallen. Sie schienen ein Ziel zu haben, denn ohne zu zögern liefen sie quer durch das ganze Erdhügeldorf. Ab und zu sah man ältere Wesen, die das hektisch laufende Duo verwundert beobachteten. Es dauerte aber dann nicht mehr allzu lange, bis sie stoppten. Sie befanden sich erstaunlicherweise nicht vor einem Erdhügelhaus oder so, sondern vor einem Loch in einer Bergwand. Da sich der Nebel seit dem letzten Mal, seit sich Dalisha draussen befunden hatte, etwas gelichtet hatte, fiel auf, dass sich das Dorf wie in einem Tal befand, dass rundherum von Bergen umschlossen wurde. Und an einer Seite dieses Tals befanden sie sich jetzt, direkt vor einem steil aufsteigenden graublauen Berg.

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