Irgendwo in Norditalien

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1984; irgendwo in Norditalien packte Elio die letzten Sachen in seinen Koffer.

Noch heute würde er in das Flugzeug Richtung Amerika steigen und Italien den Rücken kehren. Die Villa, seine Eltern und Mafalda zurücklassen.
Wie er das alles vermissen würde. Das morgendliche Schwimmen gehen, die kleine Buchhandlung an der Piazzetta, die Stille nach dem Essen, wenn er las oder Musik hörte, oder am Pool in der Sonne döste. Die Stelle an der Oliver immer gesessen hatte, wenn Elio dachte, er wäre unterwegs in der Stadt. Ja sogar die Mittagsplage würde er vermissen.

Elio nahm das blaue Flatterhemd, das Oliver bei seiner Ankunft getragen und welches er ihm schließlich geschenkt hatte, ans Gesicht um daran zu riechen. Aber obwohl er es immer vor Mafalda in Sicherheit gebracht hatte, roch es schon lange nicht mehr nach Oliver. Er würde ihn zur gegebener Zeit bitten, es noch einmal zu tragen. Er ging in den Garten, um sich einen letzten Pfirsich zu pflücken. Die Früchte waren schon überreif und so lief ihm der Saft des Pfirsichs den Hals hinunter. Nie würde er den Geschmack von Olivers Speichel vergessen, als er ihn geküsst hatte, nachdem er den Pfirsich gekostet hatte, in dem Elio gekommen war. Niemals wieder würde der Saft eines Pfirsiches besser schmecken.
„Dove sei, Elio? Wo bist du?", riss ihn seine Mutter mit ihrem Rufen aus seinen Gedanken.
„Sono qui. Ich komme", rief Elio ihr zu und warf einen letzten Blick in den Garten.
„Ach Elio, was hast du nur mit deinem Hemd gemacht. Los, zieh dir ein frisches an. So lasse ich dich nicht gehen."
Er schaute an sich herunter, sein Hemd war voller Pfirsichsaft. Er wollte das Hemd nicht wechseln. Er hatte es tragen wollen, wenn er Oliver wiedersah.
„Zieh das dunkelblaue Hemd an und beeil dich, wir müssen los."
Er spurtete zurück in sein Zimmer, ließ das dreckige Hemd auf den Boden fallen und zog wie geheißen das blaue Hemd über. Er warf einen letzten Blick aufs Bett, ohne Oliver war es viel zu groß gewesen. Er würde es nicht vermissen.
„Elio tesoro?"
Er rannte nach unten, ließ den Handlauf des Geländers ein letztes Mal durch seine Hand gleiten und lief dann mit seiner Mutter Arm in Arm zum Auto.
Ihr Weg zum Flughafen führte sie an der Piazzetta und der kleinen Buchhandlung vorbei.
„Papa, haben wir noch kurz Zeit? Ich möchte noch ein Geschenk kaufen, für Oliver... und seine Frau."
„Aber schnell, sonst fliegst du heute nirgendwo hin."
Elio würde nicht lange brauchen, er wusste genau welches Buch er kaufen wollte. Er stieg mit einem Exemplar von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wieder ins Auto. Es sollte sein erster Schachzug werden, um Oliver zurückzugewinnen.

Der Abschied von seinen Eltern fiel Elio sichtlich schwer, hatten sie doch ein so enges Verhältnis, konnte er ihnen doch fast alles anvertrauen.
Nie war er länger als ein paar Tage von ihnen getrennt gewesen und jetzt würde ein ganzer Ozean zwischen ihnen sein.
„Ti amo Elio. Komm nochmal her. Du wirst mir so fehlen. Mein kleiner Junge", schluchzte Elios Mutter, als sie ihren Sohn ein letztes Mal an sich drückte und mit Küssen übersäte.
„Abbi cura di te", rief ihm sein Vater nach. „Und melde dich, wenn du angekommen bist."
Die Türen vom Gate schlossen sich hinter Elio.

Der Abschied war schwer gewesen, aber nichts im Vergleich zu dem was noch vor ihm liegen sollte.

Als er zehn Stunden später in die Vorhalle des Flughafens trat, sah er ihn sofort. Oliver überragte die meisten Personen um ihn herum um ein paar Zentimeter. Elios Herz begann zu rasen und seine ganze Selbstsicherheit schien aus ihm zu entweichen, als er auf ihn zu lief.
„Hallo Oliver."
Seine Stimme versagte fast, als er seinen Namen aussprach. Dabei hatte er ihn doch so oft gerufen; Nacht für Nacht. Er hatte seine Hand ausstrecken wollen, aber sie war schweißnass und so hingen seine Arme ziemlich unbeholfen an ihm herunter.
„Elio! Schön, dass du da bist."
Oliver legte eine Hand an Elios Schulter. Trotz der Berührung die Gänsehaut bei Elio verursachte, hielt Oliver ihn mit seinem ausgestreckten Arm auf Distanz. Elio hatte so ein Verhalten erwartet. Hatte erwartet, dass es so seien würde wie zum Beginn des letzten Sommers und doch hatte er gehofft, dass es anders sein würde. Dass Oliver ihn in den Arm nehmen würde und er seinen Kopf an seine Schulter legen könnte.
„Darf ich vorstellen, das ist meine Frau Rebekka."
Oliver strahlte und legte einen Arm um die Frau neben ihm.
Erst jetzt bemerkte Elio die hübsche Blondine neben Oliver. Sie sah nett aus, nicht so wie Elio es erwartet hatte. Tatsächliche hatte er gedacht, dass sie ihm vielleicht ähnlich war, eine weibliche Kopie Elios, aber sie war das komplette Gegenteil. War er schmächtig, mit zarten Gesichtszügen und braunem, lockigem Haar, so hatte sie eine üppige Oberweite, blonde, glatte Haare, war stark geschminkt und ein paar Zentimeter größer als Elio. Eine Sache hatten sie allerdings doch gemein, auch Rebekka trug eine Kette mit einem Davidstern um den Hals.
Die Umarmung, die ihm Oliver verweigert hatte, bekam er von ihr. Elio mochte sie auf Anhieb.

Zwischen immer und nie  - Call me by your name Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt