Ist es besser zu reden, oder zu sterben?

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1984; irgendwo in einer kleinen Vorstadt in Nordamerika, wurde Elio unsanft aus dem Schlaf gerissen.

Elio brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, bevor er sich auf die Bettkante setzte und seine nackten Füße auf den kalten Fußboden stellte. Er schaute sich im Zimmer um; es war winzig. Aber vielleicht wirkte es auch nur so, denn es war über und über mit Olivers Sachen vollgestellt. Elio stand auf und ging zu der Kommode gegenüber des Bettes und zog die oberste Schublade auf. Sie war leer, so wie auch die anderen Schubladen. Also war sie wohl für seine Sachen bestimmt, dachte er. Vor dem Fenster stand ein großer Schreibtisch flankiert von zwei Bücherregalen, die komplett mit Büchern gefüllt waren. Eigentlich hätte es Elio zuerst zu den Büchern gezogen, doch er lief geradewegs auf den Schreibtisch zu, denn dort hatte er etwas entdeckt; die Postkarte, seine Postkarte, die von Monets Malplatz. Ein Lächeln huschte über Elios Lippen. Die Postkarte stand säuberlich eingerahmt hier auf Olivers Schreibtisch.
Er hatte sie nicht in irgendeine Kiste verbannt, um sie Jahre später beim Aufräumen wieder zu finden, wenn alles, was von dem Sommer 1983 in Italien übrig blieb, nur noch eine blasse Erinnerung war.

Er betrachtete die Zettel mit Aufzeichnungen, die überall auf dem Tisch verteilt lagen und erkannte die Handschrift sofort, es war dieselbe wie die auf dem Zettel, den er seit über einem Jahr als Lesezeichen benutzte.

Auf diesem Zettel stand in Elios Handschrift geschrieben:

Ertrage das Schweigen nicht mehr, muss mit dir sprechen.

Und in Olivers:

Werd endlich erwachsen. Wir sehen uns um Mitternacht.2

Er wandte sich von den Aufzeichnungen, die offensichtlich für Olivers nächstes Buch waren, ab und widmete sich dem Bücherschrank. Ein Buch mit rotem Buchrücken fiel ihm sofort ins Auge. Es war eine Hardcoverausgabe von Stendhals Armance. Elio zog das Buch heraus, denn er wollte wissen, ob es die Ausgabe war, die er Oliver in Italien geschenkt hatte und tatsächlich, im Innendeckel entdeckte er die Anmerkung, die er selbst hineingeschrieben hatte.

Zwischen immer und nie, für dich in der Stille, irgendwo in Italien Mitte der achtziger Jahre.3

Das Buch sah tadellos aus. Oliver hatte es nicht gelesen. Es sah ihm so gar nicht ähnlich, fand Elio.
Er stellte das Buch zurück. Seine Füße waren inzwischen eiskalt, er müsste sich angewöhnen Socken zu tragen. Er beschloss eine Dusche zu nehmen, um sich aufzuwärmen und die Erinnerungen an den Vortag hinfort zu spülen.
„Guten Morgen", rief Elio, als er sein Zimmer verlassen hatte, doch die Wohnung blieb still.
„Ist jemand zuhause?"
Keine Antwort. Schulterzuckend ging Elio ins Badezimmer und drehte die Dusche auf. Er stand einfach nur unter dem Duschkopf, ließ das Wasser, welches sich mit den getrockneten Resten Blut an seiner Nase vermischte, seinen Körper herunterlaufen und dachte mit Scham an den gestrigen Abend.

Wie hatte er es soweit kommen lassen können? Warum war er so offensiv gewesen? Er hatte die Fassung verloren und es war einfach aus ihm heraus geplatzt.
Hatte Oliver ihn schon am ersten Abend durchschaut? War der Plan, Oliver nach und nach an ihre gemeinsame Zeit zu erinnern, und ihn so zurückzugewinnen, nun dahin?

Er war den Plan doch immer und immer wieder im Kopf durchgegangen. Wie ein Klavierstück hatte er ihn durchgespielt. Aber er hatte vergessen, eine wichtige Komponente mit einzubeziehen. Er hatte die Akustik des Konzertsaals nicht bedacht. Hatte nicht bedacht, wie sein Stück an den Wänden widerhallen würde. Wie Oliver auf seine Anspielungen reagieren würde und was er diesem Echo entgegenzusetzen hatte.
Elio stieg aus der Dusche, als im selben Moment die Türklinke des Badezimmers heruntergedrückt wurde. Er hatte die Tür nicht abgeschlossen. Er hatte nicht daran gedacht, da bei ihnen zuhause nie irgendwelche Türen verschlossen waren.
„Einen Moment, ich bin nackt", rief Elio durch die Tür, die nun einen Spalt breit geöffnet war.
„Entschuldige! Ich wusste nicht, dass du da drin bist", hörte er Oliver sagen.
Elio überlegte, dass er nun sagen könnte, dass er ruhig rein kommen könne, dass er nichts zu verbergen hatte, dass es nichts gab, was Oliver nicht schon gesehen, nicht einen Millimeter Haut, die er nicht schon berührt oder geküsst hatte, aber das alles sagte er nicht.

Zwischen immer und nie  - Call me by your name Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt