Zwischen immer und nie

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1984; irgendwo in einem Arbeitszimmer eines Mehrfamilienhauses, ließ Elio sich auf sein Bett fallen.

Elio konnte nicht fassen, dass Oliver es schon wieder getan hatte.
„Ich mag die Vorstellung, dass es etwas gibt, was ich noch nicht von dir weiß", hatte er gesagt, nur um ihn danach mit einem „Später" abzuspeisen. Elio hatte Fragen und er würde sie Oliver alle am nächsten Morgen stellen.

Aber als er am nächsten Morgen aus seinem Zimmer kam, war Oliver schon weg. Auch die nächsten Tage bot sich keine Gelegenheit, alleine mit ihm zu sprechen. Elio hatte den Eindruck, als würde ihm Oliver absichtlich aus dem Weg gehen, denn er verließ sehr früh morgens das Haus und kam meist erst spät abends zurück. Er war für Elio genau so wenig greifbar, wie die meiste Zeit in Italien. Elio hätte nun genug Zeit gehabt, Kontakte am College zu knüpfen, aber er wollte es nicht riskieren, die Chance zu verpassen, Oliver zuhause anzutreffen. So saß er Nachmittag für Nachmittag zuhause, nur damit seine Hoffnung schlussendlich doch enttäuscht wurde. Hin und wieder leistete ihm Rebekka Gesellschaft. Zwar konnte man mit ihr keine hochtrabenden Gespräche über Literatur oder Kunst führen, aber dafür war Rebekka durch ihren Job als Stewardess viel herumgekommen. Sie sprachen über die Länder, in die sie gereist war und Elio liebte es ihr von Italien zu erzählen.

Er erzählt ihr von Crema, von der Piazzetta mit dem Piave Denkmal und dachte dabei an sein Gespräch mit Oliver. Erzählte von der kleinen Buchhandlung und dem Zeitungskiosk, vor dem er und Oliver gestanden hatten, nach ihrer ersten Nacht. Wie unsicher er gewesen war und wie seine Knie weich geworden waren, als Oliver ihn angelächelt hatte, erzählte er nicht. Er erzählte ihr von den kleinen Gassen, aber ließ aus, dass sich Olivers und seine Hand dort flüchtig berührt hatten, verschwieg auch, wie schnell sein Herz geschlagen hatte und wie es zwischen ihnen geknistert hatte, kurz bevor sie sich fast geküsst hätten.
Er erzählte ihr von der Villa, in der er mit seinen Eltern lebte. Natürlich hatte Elio viele Erinnerungen daran, aber die schönsten Momente dort verband er nun allesamt mit Oliver, in dem kürzesten Sommer von allen.

Rebekka klebte regelrecht an seinen Lippen. Elio mochte sie aufrichtig. Er war ihr dankbar, dass sie alles dafür tat, dass er sich bei Ihnen wie zuhause fühlte, da er doch von so schlimmem Heimweh geplagt wurde. So kam es, dass er sie eines Tages kurzerhand einlud, ihn und seine Eltern in Italien besuchen zu kommen, bevor ihm wenige Augenblicke später bewusst wurde, warum er eigentlich hier in den Staaten war.
Er wusste, dass Oliver, früher oder später, einem von ihnen das Herz brechen würde und er hasste sich dafür, dass er hoffte das es ihres sein würde.

Eines Mittwochvormittags, als Elio mal wieder alleine in der Wohnung war, vom Heimweh zerfressen, beschloss er eine Kassette für seine Eltern aufzunehmen. Er legte die Kassette in das Aufnahmegerät, drückte die Recordtaste und vernahm umgehend ein knisterndes Geräusch.
„Fuck!"
Elio nahm die Kassette aus dem Aufnahmegerät. Das Kassettenband hatte sich zur einem Knäuel verheddert. Er ging ins Arbeitszimmer, um nach einem Bleistift zu suchen, damit er das Band wieder in die Kassette ziehen konnte. 
Doch er blieb an Olivers Aufzeichnungen hängen, die auf dem Tisch verteilt lagen.

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.4

Alles fließt.

Dies war auf einem Zettel mit der Schreibmaschine geschrieben worden.
Darunter hatte Oliver eine handschriftliche Notiz verfasst. Elio nahm den Zettel in die Hand, denn er konnte nicht lesen was es war.

Das Wasser kann nicht fließen, wenn die Quelle erschöpft ist.

Elio war so in Olivers Aufzeichnungen vertieft, dass er nicht mitbekam, wie dieser nachhause gekommen war und das Arbeitszimmer betreten hatte. Er erschrak, als er Olivers Hüfte an seinem Rücken spürte.
„Schnüffelst du wieder in meinen Sachen rum?"
Elio hatte den Eindruck, dass Olivers Stimme viel tiefer klang als sonst.
Dieser stützte seinen linken Arm auf dem Schreibtisch ab und schaute über Elios Schulter. Elio saß in der Falle! Er zog seinen Pullover nach unten, um seine Erregung vor Oliver zu verbergen.
„Nein, ich...ich habe nur, ich wollte, ich...," stammelte Elio.
„Ja, du wolltest was?"
Oliver war sichtlich amüsiert und sein Mund befand sich dicht an Elios Ohr.
Elio hob die rechte Hand, in der sich die Kassette befand.
Oliver lachte und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schreibtisch.
„Was hast du damit gemacht? Du hast sie total ruiniert."
Er nahm Elio die Kassette aus der Hand und begann damit, das Band zu entwirren.
So wie du mich, dachte Elio, der immer noch dicht gedrängt am Schreibtisch stand. Er musste es schaffen, dass seine Erektion wieder abschwoll, bevor Oliver es bemerkte. Also betrachtete er erneut die Aufzeichnungen.
„Alles fließt", las er und dachte im selben Moment, nein, nein, nichts soll fließen.
„Die sind für mein nächstes Buch", unterbrach Oliver Elios erbärmlichen Versuch sich abzulenken.
„Hast du mein letztes gelesen?"
„Ja, natürlich."
„Und? Hat es dir gefallen?"
Oliver griff nach einem Bleistift, um das nun entwirrte Band wieder in die Kassette zu ziehen.
„War okay. Ich steh nicht so auf Heraklit...Aber ich mag den Autor."
„Und ich dachte, du stehst eher auf Komponisten", scherzte Oliver und reichte Elio die Kassette.
„Danke."
Elio nahm die Kassette, machte aber keine Anstalten, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
„Hattest du nicht irgendwas mit dieser Kassette vor?"
„Jepp!"
Elio biss sich auf die Unterlippe.
„Kann ich dir sonst noch bei irgendwas helfen?"
Oliver legte seine Hand auf Elios und strich mit dem Daumen leicht über dessen Finger.
„Nein, ich gehe gleich... Ich denke nur noch einen Moment über die versiegende Quelle nach."
Elio zog seine Hand unter der von Oliver weg und kratze sich am Hinterkopf.
„Wie du meinst."
Oliver grinste, legte seine Hand auf Elios Schulter, hielt kurz inne, ging dann aber aus dem Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich.
„Fuck, fuuuuuck", fluchte Elio und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
„Versiegende Quelle, wirklich?", sprach er weiter mit sich selbst, bevor er zur Kommode ging und diese öffnete. Er holte sein Tagebuch aus der zweiten Schublade, schlug es auf und schrieb dann ein Zitat Heraklits hinein.

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