Wenn nicht jetzt, wann dann?

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1984; irgendwo zwischen immer und nie, lag Elio durchgefroren auf seinem Bett.

Stumm liefen die Tränen über sein Gesicht und er dachte an die Worte seines Vaters.

Jetzt gerade fühlst du Trauer und Schmerz. Unterdrücke es nicht und damit die Freude die du empfunden hast.7

Doch was Elio jetzt brauchte, waren nicht die Worte seines Vaters, er brauchte ihn, damit er Elio halten konnte, während seine Welt zusammenbrach.
Aber er hatte niemanden, dem er sich hätte anvertrauen können. Nur sein Tagebuch, welches er aufgeklappt an sich gedrückt hatte. Erst wenige Momente vorher hatte er ein Zitat Goethes hineingeschrieben.

Die menschliche Natur [...] hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist.8

Worte für Oliver hatte er nicht gefunden. Hatte nicht gewusst, was er ihm noch hätte sagen sollen, denn Oliver hatte um so mehr gesagt und er hatte seinen Vortrag nicht mit einem „Später" beendet.
Es war ein immer wirst du mich lieben, aber nie wird da etwas zwischen uns sein.
Sie wären auf ewig verloren irgendwo Zwischen immer und nie.9

Er hatte die Seite des Buches ihrer Liebesgeschichte nicht einfach umgeschlagen. Er hatte das Buch geschlossen und von Elio verlangt, ein neues zu beginnen.
Es war kein „Später", wir sehen uns um Mitternacht  und ich lasse die Balkontür einen Spalt weit offen. Nein, er hatte die Tür fest verschlossen und als wäre das nicht genug, hatte er den Stolperdraht unüberwindbar auf dem Balkon gespannt.

Elio fühlte sich wie betäubt von dem Schmerz und der Erniedrigung, als er hatte schellen müssen, weil er weder an Jacke noch Schlüssel bei seiner Flucht gedacht hatte. Wortlos war er an Oliver vorbei gegangen, nur um dann umso lauter die Tür zuzuknallen.

Obwohl er die Nacht kaum geschlafen hatte, verließ er früh das Haus. Er ließ dies zur Gewohnheit werden, genauso wie er auch immer öfters gemeinsame Mahlzeiten ausließ, weil er Rebekkas Aufmunterungsversuche nicht länger ertragen konnte und noch weniger Olivers mitleidigen Blick.
Die einzige Freude, die er noch hatte, war das Klavierspielen, denn in die Musik konnte er seinen ganzen Schmerz und all seine Empfindungen mit einfließen lassen. Vor Oliver und Rebekka spielte er nicht mehr, aber er war alleine an jenem Vormittag.

Mit geschossenen Augen saß er am Klavier und spielte Mozarts Larimosa, welches er zurzeit transkribierte. Die Klänge erfüllten das ganze Wohnzimmer und so bemerkte Elio erst, dass er nicht mehr alleine war, als er hörte wie die Wohnungstür laut ins Schloss fiel.
Elio nahm sogleich die Finger von den Tasten, öffnete die Augen und sah, wie Oliver noch mit Jacke bekleidet im Wohnzimmer stand. Er stand umgehend auf, nahm seine Noten und wollte in sein Zimmer gehen.
„Ich vermisse es, wie du Klavier spielst."
„Und ich vermisse alles an dir", erwiderte Elio niedergeschlagen.
Er hatte seinen Schmerz teilen wollen, weil er dachte dies würde ihn erträglicher machen, aber das tat es nicht. Ganz im Gegenteil, es mischte sich nun immer öfter auch Wut unter den Schmerz. Nicht auf Oliver, denn was konnte Oliver schon dafür, dass er so perfekt für ihn war.

Viel mehr war es die Wut über seine Unfähigkeit endlich loszulassen. Denn wie hatte Andreas Tenzer einst gesagt:

Es gibt keine schlechte Niederlage. Man kann nur schlecht mit ihr umgehen.10

Daher beschloss Elio auf Oliver zu hören, schließlich gab er auf dessen Meinung doch das meiste.
Er würde jemanden finden, der ihn genauso liebte wie er ihn, oder der ihn zumindest für eine bestimmte Zeit den Schmerz nehmen würde.

Zwar gab es, im Gegensatz zu Crema, hier in der Großstadt eine etablierte Schwulenszene, aber die schaltete nicht gerade eine Anzeige im Telefonbuch. Nicht, dass Elio nicht trotzdem nachgesehen hätte. Also beschloss er einen Typen im College, zwei Jahrgänge über ihm anzusprechen, bei dem er sicher war, dass er auf Männer stand. Elio nutzte seine Chance, als er ihn eines Mittags nach dem Unterricht auf einer Parkbank sitzen sah. Er wusste nicht, woher er den Mut nehmen sollte, ihn anzusprechen und so ganz sicher, dass er auch schwul war, war sich Elio auf einmal auch nicht mehr, aber immerhin trug er seinen Ohrring auf der rechten Seite.
Elio setzte sich ebenfalls oben auf die Lehne der Bank.
„Hast du Feuer?", fragte Elio ihn.
Der Andere beugte sich rüber und zündete Elios Zigarette an und weil Elio keinen Plan hatte wie er das Gespräch beginnen sollte, fiel er einfach mit der Tür ins Haus.
„Du, ich habe mich gefragt, ob du mir sagen kannst wo man hier ausgehen kann?", stotterte er und seine Worte überschlugen sich halb beim Reden. Der Andere musterte ihn misstrauisch.
„Wer will das wissen?"
„Oh Entschuldigung. Ich bin Elio."
„Marc. Ich nehme an, du meinst nicht die üblichen Clubs und Bars?"
Elio nickte nur stumm. Zwar stand er dazu, schwul zu sein, aber offen ausgesprochen hatte er es noch nie.
Marc packte Elios Arm, streifte dessen Jacke nach oben und schrieb mit dem Kulli den Namen eines Clubs, sowie eine Telefonnummer auf dessen Arm.
„Folge einfach der Meute am Bahnhof und dann gehst du die Straße immer weiter durch. Ruf mich an, wenn du Lust hast."
Dann zwinkerte er Elio zu, bevor er von der Bank sprang und ging.

Zwischen immer und nie  - Call me by your name Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt