4. Kapitel

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Meine Beine nahmen den Befehl sofort auf, obwohl mein Kopf noch Zeit brauchte. Ich war gerade im Begriff wieder zu fliehen. Ich hatte jetzt dank der Söhne meiner Nachbarin eine reelle Chance zu entkommen. Schnell lief ich zum Ausgang, hielt kurz inne. Draußen würden seine zwei Komplizen warten. Es war zu riskant zur Vordertüre hinaus zu spazieren. Sie mussten einfach wissen, wie ich aussah. Oder es waren vielleicht sogar Männer, die ich schon kannte. Sofort drehte ich mich zur Kellertüre und lief die Treppe hinab. Der kalte Betonboden fühlte sich angenehm unter meinen nackten Füßen an. Mit der Tasche um meinen Oberkörper geschnallt eilte ich den langen, dunklen Kellerflur entlang. Am Ende würde ich in einem Hinterhof rauskommen, der in einer Seitengasse mündete. Von dort aus könnte ich zum Kanal kommen und zu einem der Flutbereiche kommen. Das wäre immerhin eine Versteckmöglichkeit. Nur um durchzuatmen. Meine Gedanken rasten während ich in den Hinterhof trat und zu den Seitengassen rannte. Die Angst in meiner Brust hielt mich davon ab anzuhalten und die Tasche zu überprüfen. Oder darin nach Schuhen zu suchen. Die Kieselsteine bohrten sich in meine Fußsohlen, was mich dazu anstachelte, noch schneller zu laufen. Immer wieder bog ich ab, sodass ich nicht einfach nur geradeaus lief sondern schwieriger nachzuvollziehen war. Ich konnte nicht beurteilen, wie lange ich schon rannte. Als ich um eine Ecke lief, lehnte ich mich ein die Hauswand, scannte die Umgebung, versuchte wieder zu Atem zu kommen. Als markante Wegpunkte erkannte ich das eine nette kleine Eckcafé, welches um diese Uhrzeit natürlich schon geschlossen hatte. Von der Distanz her könnten es tatsächlich ca. zehn Minuten gewesen sein, die ich durch die Gegend gelaufen war. Aber es müsste hier bald in der Nähe die Treppe kommen, die in Richtung Kanal führte. Angestrengt lauschte ich. Nur normale Umgebungslaute, nichts, was auf Verfolger schließen ließ. Erschöpft atmete ich noch einmal tief ein, dann lief ich wieder in Richtung Treppe. Sie führte an dem Kanal entlang, es gab nicht viele Versteckmöglichkeiten. Allerdings gab es hier nur spärlich Laternen und die Finsternis der Nacht bot mir noch ein wenig Deckung. Zudem konnten sich meine Verfolger auch nicht vor mir verstecken, falls sie mir hinterkamen. Die Zeit, die ich bis jetzt in dieser Stadt verbracht hatte erwies sich als mein großer Vorteil. Viel Zeit für die Sondierung der Umgebung konnten diese Typen einfach nicht aufgewendet haben. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass sie sofort nach der Meldung des Informanten zu meiner Wohnung gefahren waren um keine unnötige Zeit zu verschwenden.

Unter einer Brücke lehnte ich mich wieder an, schloss kurz die Augen. Ich atmete schwer. Mit zitternden Händen zog ich die Tasche vor mich, öffnete den Reisverschluss. Tatsächlich, meine Klamotten aus der Kommode. Und, zu meiner großen Erleichterung, mein zweites Paar Turnschuhe. Schnell wischte ich mit meiner Hand über meine Fußsohlen und zog dann die Schuhe an. So ließ es sich gleich viel besser fliehen. Das Rauschen des Wassers hörte sich beruhigend an. Langsam machte ich mich nach meiner Verschnaufpause wieder auf den Weg.

Ich hatte zwar keine Ahnung wohin, auch noch ohne Geld dieses Mal. In meiner Tasche hatte Frank meine Ersparnisse nicht eingepackt. Die hatte er schön als Bonus selbst eingesteckt. Es machte mich ungeheuer wütend und traurig. Alles für die Katz. Was hatte ich an Zeit gewonnen, dadurch, dass ich zwei Jahre lang verschwunden war? An sich nichts. Letztendlich hatten mich die Schergen meines Vaters doch gefunden. Wie lange würde ich es jetzt schaffen? Ein Jahr, mit Glück vielleicht wieder zwei? Es konnte doch nicht ewig so weiter gehen. Sollte ich durch ganz Europa reisen, ohne die Sprache des jeweiligen Landes zu sprechen, immer auf der Straße leben aus Angst gefunden zu werden? Jeden Tag betteln oder mich durch Taschendiebstähle über Wasser halten? Solange, bis mich dann doch ein Polizist erwischte? Ich ertappte mich bei dem Gedanken, mich einfach zu stellen und auf das Beste zu hoffen. Vielleicht haben sich mein Vater und meine Mutter ausgesöhnt. Aber das hätte mir Frank mitgeteilt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ich tatsächlich mitkommen würde. Die Ansprache in meiner Wohnung hatte sich aber nach allem angehört außer nach „zwischen den beiden ist wieder alles gut". Ich war müde. Nicht nur einfach so müde, sondern regelrecht erschöpft von der ganzen Situation. Auch wenn man es mir nicht ansah, aber ich fühlte mich um zehn Jahre gealtert. Ein kühler Luftzug umwehte mich. Mir war schlecht, unsicher, ob ich mich in den nächsten Mülleimer übergeben sollte. Aber das wäre zu schade gewesen um die gute Lasagne, die ich heute gegessen hatte. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Alessio. Der Koch aus dem Restaurant! Vielleicht konnte er mir helfen? Er hatte immer so gewirkt wie jemand, der sich um andere kümmert. Und manchmal hatte ich gedacht, eine Spur Mitleid in seinen Augen gesehen zu haben wenn er mich ansah. Konnte ich es verantworten, noch einen weiteren Unschuldigen in meine Angelegenheit und Problem hineinzuziehen? Andererseits könnte er ja immer noch ablehnen, wenn er die Geschichte erfuhr. Mit einem neuen Plan lief ich zur nächsten Treppe, die wieder in die Innenstadt führte. Zur nächsten Telefonzelle.

Dort angekommen, wühlte ich wieder in der Tasche, fand ein paar Münzen. Zum Glück hatte ich immer ein wenig Kleingeld in der Tasche gehabt. Das würde ein kurzes Gespräch werden. Aber egal, ich brauchte nur noch die Telefonnummer. Zum Glück war noch ein Telefonbuch in der Telefonzelle. Alessio Salsano. Gut, es war nur einer aufgeführt. Ich wählte die Nummer, er ging gleich ran. Mit schnellen Worten fragte ich ihn, ob ich bei ihm vorbei kommen könnte und wo er wohnte. Er stellte erfreulicherweise keine Fragen, nannte mir die Adresse und ich legte auf. Perfekt. Die Straße kannte ich, in fünf Minuten würde ich dort sein können. Mit beschwingten Schritten ging ich hoffnungsvoll in diese Richtung.


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