Ich blickte auf mein Handy und sah eine Nachricht eines Kommilitonen mit der Erinnerung, dass ich nicht wieder zu spät zur ersten Stunde kommen sollte. Diese entlockte mir nur ein müdes Lächeln. Was sich innerhalb eines Jahres alles ändern kann.
Wie jeden Mittwoch ging ich zu dem Blumenladen, der sich direkt an dem Friedhof angliederte. Die freundliche Verkäuferin lächelte mich wie jeden Mittwoch an und fragte höflich, ob es wieder das Übliche sein sollte. Einen Mundwinkel hochgezogen grinste ich zurück, nickte und legte das Geld für den Blumenstrauß auf den kleinen Teller am Tresen. Mit der kleinen Auswahl von verschiedenenfarbigen Blumen im Farbschema weiß, orange und rot betrat ich den Friedhof und machte mich auf den Weg zu jenem Grab. Der Weg war mit kleinen Kieselsteinen ausgelegt und von strategisch platzierten Bäumen umrahmt. An meinem Ziel in der Mitte des Friedhofs angekommen nahm ich die alten Blumen aus der grünen Steckvase und stellte die neuen hinein. Vor dem Grabstein hielt ich inne und ließ jenen schicksalhaften Moment Revue passieren.
Geistig befand ich mich wieder auf der Wiese der Allee, erstarrt von einem Schussgeräusch. Hinter mir begannen verschiedene Dinge abzulaufen. Aufgeregtes durcheinander Rufen, Fußgetrappel und das Zerdrücken von Grashalmen. Es waren zu viele Stimmen, von welchen ich die Aussagen nicht verstehen konnte. Mein Bauch zog sich nervös zusammen. Was war passiert? Jemand hatte geschossen und bestimmt eine Person getroffen, sonst wäre nicht so eine Stimmung losgetreten worden.
Ich drehte mich um, gewappnet für das Schlimmste. Vor mir kniete mein Vater bei meiner Mutter, welche sich auf den Boden gesetzt hatte und kraftlos in den Armen ihres Handlangers mit dem Sturmgewehr hing. Der weiße Jumpsuit, den sie trug, hatte auf der linken Bauchseite einen nun roten Kreis, welcher sich ausbreitete und behelfsmäßig von ihrer Hand bedeckt wurde. Daneben kniete mein Vater, welcher seine Hand auf ihre gelegt hatte und aufgeregt auf sie einredete. Unter den Männern am Konvoi war ein regelrechter Kampf ausgebrochen zwischen den Männern meines Vaters und den Söldnern, die meine Mutter mitgebracht hatte. Jemand hatte meine Mutter angeschossen, doch wer war es? Aufgeregt begann ich fieberhaft die Gegend abzusuchen, was ich nicht als Einziger tat. Ich stieß auf zwei Söldner, die das Gleiche taten. Doch vor ihnen wurde ich fündig, fiel mein Blick doch auf unser Wrack, welches immer noch den Baum umarmte. Frank ragte aus der Mitte hervor, in den Händen seine Pistole haltend. Er musste sich aus der entfernten Frontscheibe gehievt haben, um an diese Position zu kommen.
Mit unsicheren Schritten hatte ich mich auf meine Mutter zu bewegt, mich zu ihr gekniet und ihre andere Hand genommen. Mein Vater redete auf sie ein, dass sie sich zusammen reißen musste, einer ihrer Männer würde bestimmt Hilfe holen. Sie müsse nur durchhalten, bis der Rettungswagen kommen würde. Der Kerl, an welchem sie lehnte, hatte bereits sein Telefon am Ohr und redete energisch mit dem Notruf.
Sie drückte meine Hand, blickte abwechselnd zu meinem Vater und zu mir. Zwar sagte sie nichts, doch lächelte sie angestrengt und drückte einfach nur meine Hand. Alles war wie im Flug an mir vorbei gegangen und ich bekam fast nichts mit. Letztendlich war ich gefühlt alleine auf der Wiese gestanden als der Krankenwagen mit meiner Mutter zusammen weggefahren war. Die Kämpfe beider Lager hatten aufgehört und mein Vater hatte, was ich erst im Nachhinein erfuhr, ein nettes Sümmchen Bestechungsgeld gezahlt, als die Polizeibeamten aufkreuzten, welche zusammen mit dem Rettungswagen alarmiert worden waren. Es waren mehrere Sanitäter nachträglich noch ausgerückt und hatten alle restlichen Verletzten eingesammelt, unter welchen auch ich war. Die Untersuchungen in der Notaufnahme hatte ich über mich ergehen lassen. Alles wirkte so surreal. Nach zwei Tagen hatte ich dann von einer Krankenschwester erfahren, dass meine Mutter noch auf der Fahrt verstorben war, da die Kugel zu viel Schaden angerichtet hatte.
In mir war eine innere Leere entstanden, welche mich apathisch in meinem Krankenhauszimmer aus dem Fenster starren ließ. Zum Glück war mein Bruder Christian nach vier Tagen in Italien angekommen und hatte mich als erstes in seine Arme geschlossen. Er war mein Fels in der Brandung gewesen und hatte mir den nötigen Rückhalt gegeben, den ich benötigt hatte. Zusammen mit ihm hatte ich meine nächsten Schritte geplant, als ich wieder in der Lage dazu war.
Mein Vater war mit seiner Entourage, inklusive Frank, wieder in die Staaten zurückgekehrt, nachdem die Beerdigung meiner Mutter in Dublin auf dem Arbour Hill Cemetery abgehalten war. Nach reichlicher Überlegung hatte ich mit Christian beschlossen, mich an der Technological University Dublin einzuschreiben und dort zu studieren. In Irland konnte ich meine anderen Wurzeln erforschen. Gemeinsam hatten wir uns eine Wohnung gesucht und lebten als Wohngemeinschaft dort. Er versuchte so gut wie möglich Dad aus der Ferne bei seinen Geschäften zu unterstützen, während ich Produkt Design studierte. Jeden Mittwoch brachte ich neue Blumen in den Lieblingsfarben meiner Mutter zu ihrem Grab und besuchte sie. Auch wenn sie vielleicht schlechte Dinge getan hatte, war sie doch meine Mutter. Wie mein Vater bereits vorgeschlagen hatte, hatte ich mir einen Therapeuten gesucht und begonnen, alles auszuarbeiten. Zwar war ich einer der Älteren in meinem Studiengang, was aber niemanden störte. Vorsichtig hatte ich mich auch mit wenigen meiner Kommilitonen angefreundet, sodass ich regelmäßig etwas mit einer kleinen Traube an Menschen unternahm und vieles aufholte, was mir zwei Jahre lang verwehrt geblieben war. Auch sprach ich per Videochat mittwochs mit meinem Vater, um den Kontakt zu halten. Frank hatte sich während einer dieser Gespräche eingeschaltet und sich erklärt, oder es zumindest versucht. In einer Kurzschlussreaktion hatte er seine Waffe gezogen und den Abzug gedrückt. Wahrscheinlich hatte das Gespräch in der verlassenen Halle viel zu dieser Affekthandlung beigetragen. Dies ließ sich nun alles schwer rekonstruieren. Doch eines war mir jetzt klar: Ich hatte wieder ein Leben, auch wenn dies mit einem hohen Preis einhergegangen war.
Ich seufzte laut auf, blickte auf meine Uhr und lief los, um noch pünktlich zur Vorlesung zu kommen.
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No Choice
Teen FictionSeit zwei Jahren befindet er sich auf der Flucht vor seinem Vater, denn in seiner Heimat ist seine Familie in Mafia ähnlichen Handlungen verstrickt. Als seine Mutter sich ein Verfehlung leistet, soll er dafür büßen. Kurzerhand hatte er die Flucht er...