Die Bäume zogen wieder an uns vorbei, als wir den Ort verlassen hatten. Das Schweigen meiner Stimmung nicht zuträglich, aber immerhin war ich nicht mehr eingeschränkt und konnte mich auf dem Beifahrersitz endlich vollständig zusammen kauern.
„Fröschlein, wir sind für dich da. Das muss viel gewesen sein. Aber es war mir nicht klar, was dein Vater mit seinem Treffen bezwecken wollte. Oder das sich meine fiesen Vermutungen bewahrheitet hatten. Natürlich ist es für mich jetzt leicht zu sagen, dass ich etwas getan hätte, wenn ich es gewusst hätte. Aber um ehrlich zu sein kann ich das nicht garantieren. Die Vorstellung war grotesk, da kam es mir gerade recht, dass dein Vater diese Vermutungen vehement ausgeräumt hatte. Auch wenn ich versuchte ein paar Augen mehr auf dich gerichtet zu haben."
„Du kannst dich leicht tun, ich erinnere mich ja nicht. Entweder meine Mutter ist ein Monster oder ihr habt euer Gaslighting auf ein absolut krankes Level gehoben", stieß ich hervor. Ich saß vor einem riesigen Scherbenhaufen, nicht er.
Frank schüttelte den Kopf. „Ich weiß noch, als du mit fünf die Treppe runter gefallen bist. Du hattest eine fiese Platzwunde an der linken Augenbraue, einen Schlüsselbeinbruch und hast viel geweint. Deine Mutter war direkt bei dir, aber als ich dich in die Notaufnahme gefahren hatte, meintest du, dass du geschubst wurdest. Außer Scarlett kann niemand da gewesen sein. Es gab einfach so viele Indizien, dass sie keine liebevolle Mutter war."
Wieder etwas, an was ich mich nicht erinnern konnte. Davon war lediglich ein feiner, weißer Strich an meiner Braue geblieben.
„Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll", antwortete ich ehrlich. Frank hob nur die Schultern, als wollte er mir zeigen, dass er nicht mit Zwang versuchen wollte mich zu überzeugen. Hätte ich wirklich die letzten zwei Jahre nicht auf der Flucht sein müssen? Wäre die Angelegenheit durch ein einfaches Gespräch mit allen Beteiligten erledigt gewesen? Mums Freunde waren sehr überzeugend gewesen und hatten mir erfolgreich suggeriert, dass ich in Lebensgefahr war. Wenn sie aber in der Tat so ein manipulativer Mensch war, hatte sie ihren Freunden mit Sicherheit den gleichen Bären aufgebunden. Oh Gott, war ich so früh ausgezogen, weil mir unterbewusst klar war, dass meine Mutter mich schlecht behandelt hatte? Meine Gedanken rasten, ein stechender Kopfschmerz machte sich langsam in mir breit und kroch wie eine Spinne langsam meinen Nacken hoch. Was hätte ich dafür gegeben, mich jetzt in meiner kleinen Wohnung auf meinem Bett zusammen zu rollen und dann später wieder meine Schicht als Kellner zu beginnen. Als wäre alles normal. Oder ich noch auf der Flucht, ohne diese traumatische Wahrheitssandwich serviert bekommen zu haben.
Die Bäume der Allee flogen an uns vorbei, als wir mit knapp hundert über den Asphalt heizten. Es kamen nur vereinzelt Autos entgegen, vielleicht der Uhrzeit wegen. Stille erfüllte wieder den Innenraum, mit einer Mischung aus angenehm und zugleich drückend. Keiner wagte es zu sprechen. Weder Frank noch ich. Seine beiden Kollegen auf dem Rücksitz hatten kein Recht zu urteilen, da ich sie nicht kannte und es nicht den Eindruck machte, als würden sie sich mit dem Thema identifizieren oder gesteigertes Interesse zeigen. Zu einer qualifizierten Einschätzung waren sie somit nicht in der Lage. Wenn das alles tatsächlich der Wahrheit entsprach, war es mir sogar unangenehm, dass diese Vielzahl an Handlangern über meine Kindheit Bescheid wusste.
Wie würde es jetzt weiter gehen? Zurück in Staaten, aber was dann? Psychologische Hilfe und dann wieder ab an die Uni? War ich denn mental dafür bereit? Die letzten zwei Jahre konnte niemand rückgängig machen. Mein Vertrauen zu anderen Menschen war seit zwei Jahren, aber insbesondere seit gestern, mit mehr als nur Füßen getreten worden. Und wollte ich, dass all die potentiell schlimmen Erinnerungen wieder an die Oberfläche traten? War es nicht besser, sie schön in meinem Unterbewusstsein zu vergraben und zu verdrängen? Nie wieder hervor zu holen? Wem war denn damit geholfen wenn ich mich erinnerte, niemanden. Der Sauerstoff tat sich mit jedem Gedanken schwerer in die Tiefe meiner Lungenflügel vorzudringen. Kaltschweißig verkrampften sich meine Hände in dem Stoff meiner Hose. Ich biss auf meine Unterlippe, mich durch den kurzen Schmerz in der Gegenwart haltend und ein Schluchzen zu unterdrücken. Wie so schnell eine Welt zerbrechen kann.
„Mach doch endlich, du blöder Wichser", hörte ich Frank knurren und musterte ihn. Sein Blick war auf den linken Seitespiegel gerichtet. Schnell wandte ich mich zum linken hinteren Fenster und bemerkte, an was sich der Sicherheitschef störte. Ein schwarzer Geländewagen versuchte kläglich zu überholen. Was fiel diesem Trottel denn ein, uns in so einer schlechten und unübersichtlichen Stelle überholen zu wollen? Vor allem wenn wir schon mehr als die erlaubte Geschwindigkeit fuhren.
„Überhol mich doch endlich, Führerschein in der Cornflakes Packung gefunden? Ja ja, vaffanculo, du mich auch", murmelte mein Ziehvater während er den Fuß vom Gas nahm und versuchte, den anderen vorbei zu lassen.
Der Geländewagen war endlich auf der Höhe unseres Gefährts, wobei mir diese ganze Situation komisch vorkam. Mein Bauchgefühl erwies sich leider als goldrichtig, da der Geländewagen ausholte und mit knappen 90 km/h in die Fahrerseite unseres Wagens donnerte. Frank versuchte gegenzuhalten, doch leider wiederholte der andere Verkehrsteilnehmer das Spielchen wieder. Dieses Mal hatten wir weniger Glück. Unser Fahrer verlor die Kontrolle und das Letzte was ich vor uns sah war ein massiver Baum, der immer näher kam. Auf die Wucht des Aufpralls folgte schwarze Leere, die freundliche Umarmung eines Airbags, die mir zusammen mit dem Sicherheitsgurt die Luft aus der Lunge drückte und ungeheure Schmerzen, die meinen Körper durchzogen.
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No Choice
Teen FictionSeit zwei Jahren befindet er sich auf der Flucht vor seinem Vater, denn in seiner Heimat ist seine Familie in Mafia ähnlichen Handlungen verstrickt. Als seine Mutter sich ein Verfehlung leistet, soll er dafür büßen. Kurzerhand hatte er die Flucht er...