Prolog

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Warum war ich hier, fragte ich mich abermals, als ich im Schneidersitz auf dem Boden saß und den drei Frauen, die gegenüber von mir hockten, unauffällig ins Gesicht sah. Ich hatte Schwierigkeiten, wenn es darum ging, Umgang mit Menschen zu pflegen und wenn ich davon spreche, ich habe Schwierigkeiten, dann war das maßlos untertrieben. Blickkontakt zu halten, fiel mir schwer und eine Konversation zu führen, war beinahe unmöglich, außer ich brachte mal stotternd oder nuschelnd einen Satz hervor. Wieso war ich so? Diese Frage hatte ich mir schon oft gestellt, aber die perfekte Antwort darauf gab es nicht. Ich denke, ich war einfach der schüchterne und in sich gekehrte Typ Frau, für den der Begriff introvertiert entwickelt wurde. Doch es gab noch ein anderes Problem, welches ich mit mir herumtrug und schuld daran war, dass ich an einem Freitagabend hier hockte, umringt von meinen drei Arbeitskolleginnen, die sich im Büro »die Truppe« nannten.

Ich konnte nicht nein sagen oder besser gesagt, ich war in den meisten Fällen unfähig dazu. Und genau das war vorhin auch passiert, als ich nach Feierabend vor dem Fahrstuhl stand und einfach nur nach Hause wollte. Plötzlich erkannte ich die Umrisse der drei Kolleginnen in der kühlen Metalltür vom Aufzug und ohne eine Chance zu erhalten, die Flucht zu ergreifen, hatten sie mich mitgeschleppt. Jeder normale Mensch hätte ihnen ein paar Takte gesagt, sie unweigerlich darauf hingewiesen, dass ihr Verhalten übergriffig war, aber nicht ich. Nein, ich wäre zu so etwas niemals imstande gewesen. Dabei hatte ich bis jetzt mit meinen Arbeitskolleginnen kaum ein Wort gesprochen, wusste nicht, wieso sie auf einmal meine Gesellschaft suchten. Abgesehen von einem höflichen Nicken im Pausenraum, hatten wir noch nie Kontakt miteinander gehabt. Aber sie waren wie alle anderen Menschen auch, interessierten sich für mich scheues Reh, machten sich womöglich lustig über mich oder waren fest davon überzeugt, mich ändern zu können. Wie oft war ich solch einer Sorte Mensch schon begegnet, aber ehrlich gesagt hatte ich aufgehört zu zählen.

»Lasst uns Flaschendrehen spielen. Was haltet ihr davon?«, bemerkte Kimberly oder wie ich sie nannte, der Engel. Sie hatte wunderschönes blondes Haar, hübsche hellblaue Augen und wirkte, als sei der Anhänger von einem Engel an einem Weihnachtsbaum ihr Ebenbild. Wenn ich mich nicht irrte, war sie Ende zwanzig und somit ein paar Jahre jünger als ich. Außerdem glaubte ich zu meinen, sie war die Gastgeberin und wir befanden uns bei ihr zu Hause. Vorsichtig schaute ich hoch, ehe ich meinen Kopf wieder senkte und mein Augenmerk auf meine Hände richtete, die in meinem Schoß lagen. Seit Ewigkeiten knibbelte ich an der abstehenden Haut von meinem Daumen herum, wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.
»Ja, Flaschendrehen!«, jubelte Alex, die Jüngste im Bund, war augenscheinlich erst Anfang zwanzig und ging nur einer Arbeit nach, weil ihr neureicher Vater sie dazu nötigte. Ich habe oft Gespräche mitbekommen, wo sie sich darüber beschwerte, dass er die hundertste Kreditkarte gesperrt hatte. Sie hatte die gleiche Haarfarbe wie ich, schwarz, nur waren diese kurz und gingen ihr gerade bis zum Kinn.

Nach dem freudigen Jubel der Jüngeren, leerte Kimberly den letzten Tropfen in der Glasflasche, in der bis eben noch Rotwein drinnen war. Dann legte sie genau diese zwischen uns und sah uns alle herausfordernd an. Wie ich solche Spiele hasste, dachte ich mir und seufzte leise. Man war genötigt etwas zu sagen, gar über sich zu erzählen, zumindest, wenn man die Wahrheit wählte. Dies gab viel Spielraum für Lästereien und diverse Möglichkeiten, um sich über den Anderen lustig zu machen. Ebenfalls etwas, was mir Sorge bereitete. Ich machte mir stetig Gedanken darüber, was mein Gegenüber von mir hält. Pflicht würde ich ohnehin nicht wählen, hätte zu viel Angst, mich vor den Dreien zu blamieren. Diese waren bereits angeheitert, hatten schon einige Gläser mit Alkohol getrunken. Da ich nicht nein sagen konnte, hatte ich ebenfalls ein Glas mit klarem Wodka vor mir stehen, aber ich trank keinen Alkohol mehr, hatte damit schlechte Erfahrung gemacht und hoffte, niemanden würde auffallen, dass ich das Getränk nicht angerührt habe.
»Also... auf wen die Flasche zeigt, der muss uns sein größtes Geheimnis verraten«, sprach Deborah und wollte scheinbar den Anfang machen. Sie war meine dritte Arbeitskollegin, so alt wie ich und somit Anfang dreißig. Ihre roten Haare, die ziemlich spröde und wellig waren, stachen einem sofort ins Auge, aber nicht nur das, sondern auch das Hellblau ihrer Augen, die wie ein Kontrast zu ihrer blassen Haut wirkten.

Alle drei sahen gespannt auf die leere Rotweinflasche, die mit einigen Umdrehungen über den Boden schlitterte. Alex klatschte aufgeregt in die Hände und hatte sichtlich Spaß an dem Spiel, das für mich eine persönliche Hölle darstellte.
»Sophia!«, rief der Engel hysterisch auf, ließ mich bei dem lauten Tonfall vor Schreck zusammenfahren. Warum sie ausgerechnet meinen Namen so euphorisch aussprach, zeigte sich direkt vor mir. Der Hals der Flasche zeigte unweigerlich auf mich und qualvoll krümmte ich meine Augenbrauen, weil ausgerechnet ich es war, die beginnen sollte.
»Die Flasche hat auf dich gezeigt!«, sagte Deborah. »Erzähl uns dein größtes Geheimnis, Sophia!«, fügte sie hinzu und stemmte die Ellenbogen auf ihren Beinen ab, ehe sie mir energisch ins Gesicht blickte. Rasch sah ich zu der Flasche hinunter, deren Hals definitiv auf mich zeigte, hatte gehofft, mich beim ersten Mal verguckt zu haben. Aber nein, es war leider nicht so. Unbehaglich schob ich sie von mir weg, schaute in die verwirrten Gesichter der Frauen.

»Ich habe keine Geheimnisse«, nuschelte ich verlegen, wollte lieber nur Zuschauer sein, anstatt Mitspieler. Beobachten lag mir mehr als sozialer Umgang und Teilnahme.
»Jeder hat Geheimnisse, Sophia!«, entgegnete die Schwarzhaarige. »Ich dachte wir sind Freundinnen?« Freundinnen? So etwas hatte ich nicht und ehrlich gesagt, auch noch nie gehabt. Es gab nur Charlie, meinen besten und einzigen Freund, den ich vor einigen Jahren kennengelernt hatte. Dieser war extrovertiert, aufgeweckt und damals der Meinung gewesen, mich komisches Dingen zu adoptieren. Er war der Einzige, dem ich überhaupt etwas anvertraute und in dessen Gegenwart ich mich wohl fühlte, sodass ich mich nicht wie eine Schnecke in meinem Häuschen verkriechen musste. Aber die drei Frauen sollen meine Freundinnen sein? Wohl kaum, dachte ich mir und griff nach einer schwarzen Locke, die über meiner Schulter lag und die ich nun um meinen Finger zwirbelte. Obwohl, wenn ich ehrlich war, dann hätte ich nichts gegen weibliche Bekanntschaften. Jedoch werden sie mich nach diesem Abend nie wieder zu sich einladen, da sie erkennen werden, was für eine Spaßbremse ich war.

»Sophia, erzähl uns dein Geheimnis«, forschte der perfekte Engel nach, wollte nicht lockerlassen und bei den Blicken der anderen beiden Frauen, wusste ich, ihnen erging es genauso. Angespannt drückte ich meine Lippen aufeinander, musste mir eingestehen, dass es wirklich zwei Geheimnisse gab, von denen kaum einer wusste, gar niemand, bis auf Charlie. Doch das eine Geheimnis, würde ich niemals jemand wildfremden erzählen, da ich es in meinem Herzen hütete, wie einen kleinen Schatz. Dass andere Geheimnis stieß meistens bei meinem Gegenüber auf Unverständnis, weshalb ich es ungern mitteilte, aber bei den neugierigen Blicken, die auf mir hafteten, blieb mir nichts anderes übrig, oder? Immerhin erwarteten sie jetzt alle was von mir und auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, wollte ich sie nicht enttäuschen. So war es immer, oder? Nachdem ich meinen Kopf senkte, nervös an dem Reißverschluss von meinen Boots spielte, nuschelte ich: »Ich habe Canophobie.« Eine mir bekannte Stille herrschte in dem kleinen Wohnzimmer und vorsichtig sah ich auf, blickte in die irritierten Gesichter der Truppe. Ja, genau, das war die normale Reaktion, die ich nur allzu gut kannte. Alle drei hatten verwirrt ihre Augenbrauen gekrümmt, starrten mich regelrecht an und befangen senkte ich wieder meinen Kopf.

»Was ist das?«, fragte die Tochter des Neureichen, dessen hohe Stimme ich unter vielen wiedererkennen würde.
»Das ist eine Phobie gegen Hunde«, murmelte ich angespannt und traute mich nicht aufzusehen. Aber das war nicht nötig, denn das Gelächter der Jüngeren zeigte mir eindeutig, wieso ich dieses Geheimnis normalerweise für mich behielt.
»Wer hat denn Angst vor Hunden?«, erkundigte sie sich, noch immer mit einem lauten Lachen, welches in mein Ohr drang, dort immer weiter schallte. Ich, dachte ich mir und hatte mit solch einer Reaktion bereits gerechnet.
»Hör auf«, zischte die Rothaarige, woraufhin es im Raum plötzlich still wurde. Argwöhnisch sah ich auf, bemerkte die mitleidigen Blicke von Deborah und Kimberly, die ich ebenfalls schon kannte. Ja, wieso sollte man Angst vor einem süßen Haustier haben, welches übersät mit weichem Fell war, mit dem man am Abend auf dem Sofa sitzt und kuschelt.
»Gut«, stammelte der liebliche Engel, ehe sie der Flasche einen erneuten Anstoß gab. »Dann wollen wir die nächste Runde einläuten.« Ich wusste, dass sie mit dem Weiterführen des Spiels diese unangenehme Stimmung ändern wollte, die zwischen uns entstanden war. Ehrlich gesagt, hatte ich nichts dagegen, hoffte inständig, dass die Flasche mich den restlichen Abend in Ruhe lassen wird. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, war, mich weiter vor der Truppe zu blamieren, die am Montag über meine, in ihren Augen, lächerliche Phobie im Büro tratschen.

Willkommen bei meiner neuen Tom Fanfiction, die euch hoffentlich gefallen wird. Da der Prolog kurz ist, dürft ihr weiterscrollen und Kapitel eins lesen ❤️ Viel Spaß

Für immer noch einmalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt