Kapitel 5

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Ich war schon eine Weile mit dem Fahrrad unterwegs, als ich endlich das riesige Gelände vom Internat in der Dunkelheit erreichte. Die zahlreichen Türme, die teilweise aussahen, als seien sie einer Burg entsprungen, waren das Schmuckstück des Colleges. Das imposante Grundstück war über vielerlei Möglichkeiten und Wege zu erreichen, weshalb ich mir unsicher war, welcher am besten zu bewältigen war. Immerhin würde ich jetzt unbefugt das Gelände betreten und ich wusste, dass es hier von Wachmännern nur so wimmelte. Da es sich hierbei um ein Internat handelt, hielten sich die Studenten auch abends beziehungsweise nachts hier auf. Die Wachleute wären über mein unerlaubtes Eindringen sicher nicht erfreut und das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, auf der Polizeistation zu landen, um einer Handvoll Polizisten Rede wie auch Antwort zu stehen. Würde keinen Mucks von mir geben, womöglich als auffällig eingestuft werden. Es war sicherlich ratsam, über die riesige Rasenfläche an das Gebäude zu treten, hatte dort genug Chancen, um mich hinter Bäumen oder Büschen zu verstecken. Vorsichtig stieg ich von meinem Fahrrad ab, legte es in einen Busch, bevor ich die nächsten Meter wachsam weiterging. Das Gras unter mir war ein wenig feucht, hinterließ seine Spuren auf meinen Boots, während ich mich daran erinnerte, dass sich hier früher viele Studenten zusammengefunden haben, die die Rasenfläche zum Chillen benutzt hatten.

Irgendwo müsste auch noch die Statue von Heinrich VI stehen, dem Gründer des Internats, aber ich glaubte zu meinen, dass sich diese im Innenhof befand. Während ich meinen Weg fortführte, fragte ich mich, ob es noch immer Ausflüge und AGs gab, an denen unterschiedliche Internate zusammenkamen? An sich war ich kein Freund davon, dass die Geschlechter getrennt wurden, da wir Menschen von anderen lernen, von ihren Ressourcen profitieren können. Manchen Jungs hätte es sicherlich gutgetan, wenn sie Mädchen um sich herum gehabt hätten, genau wie anders herum. Natürlich gab es hier in London auch gemischtgeschlechtliche Hochschulen, aber warum war das Konzept nicht bei allen Institutionen so, fragte ich mich. Hatten die Akademiker Angst, die Studenten würden sich nicht auf ihren Abschluss konzentrieren, wenn sie die Möglichkeit erhalten, eine bewegende Liebe zu finden? Oder funktionierte das nicht mit den ethischen Vorstellungen der Universität? Wenn das die Gründe seien sollten, um so etwas rechtfertigen zu können, dann war das in meinen Augen totaler Quatsch. Eine Liebe, eine Partnerschaft und die umhergehenden Gefühle konnte man auch außerhalb eines Internats finden. Genau wie es bei mir und Tom der Fall gewesen war, dachte ich mir und konnte ein dezentes Schmunzeln nicht verhindern, als sein Gesicht in meinen Gedanken auftauchte. Diese wunderschönen Augen, die einen intensiv betrachten konnten, dabei alles verschlingen, ohne es zu wollen. Obwohl es schon ein paar Tage her war, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten, konnte ich noch immer seine Wärme auf meiner Haut spüren. Egal ob es sich hierbei um meine Lippen handelte oder meine Hand, die er mehrmals berührte. Allein diese Erinnerungen reichten aus, um ein feuriges Brennen in meinen Wangen zu produzieren, was mir bei der kühlen Abendluft sehr gelegen kam.

Wir hatten beide verschiedene Universitäten besucht, eine lange Zeitspanne gehabt, in der wir uns nicht zu Gesicht bekamen, aber trotzdem hatten wir das Glück gehabt, uns noch einmal zu finden. Wie wäre es wohl abgelaufen, wenn wir beide auf ein und derselben Universität gelandet wären? Ich hatte meine Eltern nie gefragt, wieso sie mich auf die Wycombe Abbey geschickt hatten, aber ich konnte mir vorstellen, dass es etwas mit ihrer konservativen Einstellung zu tun hat. Aber... selbst wenn der ehemalige Theaterkollege und ich auf ein und dieselbe Hochschule unterrichtet worden wären, dann hätte er viel mehr Auswahl an hübschen jungen Frauen gehabt, mich sicher nicht beachtet. Frustriert ging ich weiter, es fehlten nur noch ein paar Schritte, bis ich das Universitätsgebäude erreichte. Achtete genauestens auf die Fenster, hinter denen noch Licht brannte, wo Studenten noch nicht am Schlafen waren. Es wäre fatal, wenn sie mich entdecken und Alarm schlagen. Die Beleuchtung, die nach draußen schien, half mir über nichts zu stolpern oder gegen etwas zu laufen. Wofür ich unendlich dankbar war. Das Gelände war zwar riesig, aber ich wollte zu einem bestimmten Teil des Gebäudes. Dort wo wir uns für die AG getroffen haben, hatte sonst keine emotionalen Erinnerungen an diese Universität. Als ich endlich vor einer imposanten Mauer zum Stehen kam, fuhr ich mit meiner Hand über die roten Backsteine, lief am Gebäude entlang. Nachdem ich um die Ecke bog, entdeckte ich das Nebengebäude, wo ich oft war und wo ich Tom das erste Mal getroffen hatte. Langsam ging ich darauf zu, atmete angestrengt und mein ausgestoßener Atem schwebte wie eine kleine Rauchwolke hinauf. Ich ging zu der alten Holztür und versuchte sie zu öffnen, doch zu meinem Bedauern war sie verriegelt.

Für immer noch einmalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt